Kultur: Herzstillstand am Abendbrottisch
Joan Didions erschütterndes Trauerprotokoll „Das Jahr magischen Denkens“
Sie macht gerade Abendessen. John, der Schriftsteller John Dunne, mit dem sie seit fast 40 Jahren verheiratet ist, mit dem sie fast alle Tage und Nächte gemeinsam verbrachte, der ihre Texte redigierte, sogar ihre erste „Life“-Kolumne, die sie 1969 während des Wartens auf eine Flutwelle im Hotel in Honolulu schrieb und in der sie sich mit dem Satz vorstellt: „Wir sind hier, auf dieser Insel inmitten des Pazifischen Ozeans, anstatt die Scheidung einzureichen“ – Joan Didions geliebter Mann John sitzt mit einem Buch und einem Bourbon am Kamin. Dann hat er einen Herzinfarkt und sackt tot zusammen.
„Meine Aufmerksamkeit galt dem Mischen des Salats. John redete, und dann redete er nicht.“ Die Sprache wird taub. Kurze Sätze, Wellen von Schmerz. Blutstau im Kopf. Mechanische Verrichtungen, Erinnerungslücken, Fachbegriffe, verzweifelte Nüchternheit (von Antje Rávic Strubel klug ins Deutsche übertragen). Der Notarzt, die Fahrt ins Krankenhaus, der amtliche Exitus, die Formalitäten. Immer wieder rekonstruiert Joan Didion diesen Abend des 30. Dezember 2003, an dem John starb, während ihre gemeinsame Tochter Quintana auf der Intensivstation des Beth Israel Nord lag, im Koma nach einem septischen Schock.
Die brillante Schriftstellerin, deren Reportagen sich wie Romane lesen und deren Romane („Nach dem Sturm,“ „Demokratie“) von Wirklichkeit durchsetzt sind, Joan Didion, Jahrgang 1934, Mythologin des amerikanischen Westens, unerschrockene Analytikerin der Ostküsten-Gesellschaft – sie hat ein Buch über das Jahr danach geschrieben, über die Trauer. Es ist alles da, was man seit dem „Weißen Album“ so verehrt an dieser zarten, mädchenhaften Frau. Die Neugier. Die Akribie. Die Skepsis gegenüber dem, was die anderen sagen. Die Begeisterung für Geologie, Physik und Medizin. Die Politisierung des Privaten, die Intimität der Politik. Aber diesmal geschieht alles unter Schock. Hier schreibt eine Überlebende, eine Ungläubige, die sich weigert, mit dem Tod einverstanden zu sein. Jeder Satz ist von Trotz grundiert: Ich bin dagegen. Tsunamis, Erdbeben, die tektonische Veränderung der kalifornischen Küste, das ist ein Ende, dass sie sich vorstellen kann. Nicht „Herzstillstand am Abendbrottisch“.
Es war eine seltene, kostbar glückliche Ehe. „Das Jahr magischen Denkens“ ist weniger ein Handbuch für Trauernde als das Protokoll einer Vivisektion. Pathologie des Leids. Schicht für Schicht trägt Didion die eigene dünne Haut ab. Es gibt Phasen: das Kranksein zu Beginn. Die kognitiven Defizite. Die Seele taumelt. Sie kann nichts essen. Sie tut verrückte Sachen, besteht auf einer Autopsie und wehrt sich gleichzeitig gegen eine Organspende. Sie räumt seine Schuhe nicht weg. Wie soll er laufen ohne Schuhe, wenn er zurückkommt.
Dann folgen die Strudel. Die ganze Welt erinnert an John. Es ist das Auge des Orkans, die totale Fixierung. Jeder Gedanke, jede TV-Werbung, jede Assoziationskette endet bei ihm. Joan Didion vermeidet Straßen, Restaurants, Städte – weil sie mit John dort war. Penibel verzeichnet sie Strategien gegen die Erinnerungsattacken. Die Strudel sind stärker.
Sie lebt im Konjunktiv. Sie ritualisiert den Alltag: Auf dem Esstisch müssen es jetzt unbedingt die „Wickerdale“-Teller von Johns Mutter sein. Sie hadert mit ihrem Selbstmitleid. Sie fühlt sich schuldig, sie kriegt die Wut: Warum hat er sie verlassen? Und sie verschlingt Bücher über das Hinterbliebensein. Freud, Melanie Klein, Philippe Ariès, „Alkestis“, Fachliteratur über lichtstarre Pupillen und Emily Posts Benimmbuch von 1922: „Die Freunde sollten darauf achten, dass das Haus gut durchlüftet ist.“ Das Benimmbuch ist besser als Religion, sie glaubt nicht an die Auferstehung der Toten, trotz der Sache mit den Schuhen. Haltlos hält sie sich an Versen fest, von E. E. Cummings, Shakespeare oder Dylan Thomas.
Eine manisch-panische, vergebliche Recherche. „Die Verrücktheit lässt nach, aber keine Klarheit ersetzt sie.“ John soll ein Foto auf dem Tisch werden, das wäre vernünftig. Aber es gibt keinen Trost beim Versuch, „den Aufprall zu rekonstruieren, den Sturz des erloschen Sterns“. Der Tod ist unvernünftig, radikal sinnlos.
Didions Reportagen aus den sechziger und siebziger Jahren beginnen mit dem Satz: „Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.“ Noch in ihrem schwarzen Album über die Trauer schreibt Didion unentwegt Geschichten, obwohl sie weiß, dass es beim Leben nicht hilft. Eine Beschwörung wider besseres Wissen, eine grandiose Vergeblichkeit. Was tun Trauernde, die nicht schreiben?
Im „Weißen Album“ besticht Didions mal beißende, mal warmherzige Ironie, mit der sie sich über die Hippies, Feministinnen, Popstars, kurz: über das andere Amerika amüsiert. Sie gehört dazu und steht daneben, eine Geheimagentin in eigener Sache. Welche Kraft muss es kosten, diese Kunst des Amüsiertseins, des Staunens über sich selbst auf die Trauer um John anzuwenden? Egal, ob es um Vietnam, die Residenz des Gouverneurs oder die eigene Migräne geht, immer blühten in Didions Texten auch die Magnolien. Sie nimmt sich Zeit für den Seitenblick, für das, was nicht ins Bild passt: eine aparte Geste, ein schönes Detail. Deshalb wird ihr Stil oft elliptisch genannt, dabei ist es die Realität, die sich aus Bruchstücken fügt.
Nach sechs Monaten beginnt sie wieder zu träumen. Sie träumt, dass sie allein auf dem Rollfeld zurückbleibt, während die Flugzeuge abheben. In einem sitzt John. Es gibt noch eine andere Rollfeldszene, keine geträumte. Quintana ist aus dem Koma erwacht, in Kalifornien muss sie wieder auf die Intensivstation, mehrfach eröffnet die Mutter ihr, dass der Vater tot ist, mehrfach hat Quintana es wieder vergessen. Nun wird sie per Cessna von Los Angeles nach New York zurücktransportiert, zum Auftanken landen sie in einem Kornfeld in Kansas. Wieder steht Didion draußen vor einem Flugzeug und ist beschämt. Weil Quintana nicht raus kann.
Später nervt sie die Ärzte, pflügt sich durch Therapievokabular. Kimura-BoxTest, Glasgower Koma-Skala, Vancomycin-Resistenz, Staphylococcus epidermis. Sie füllt ganze Seiten mit Medizin-Wörtern, studiert Monitore und Krankenblätter, lässt nicht locker, nervt weiter. Noch eine Beschwörung.
Am Ende des magischen Jahrs zitiert Didion, Enkelin eines Geologen, aus „ Demokratie“: „Ein Berg ist eine vorübergehende Anpassung an Druck, und das Ich ist vielleicht eine ähnliche Anpassung.“ Der Tod ist die größere Naturkatastrophe. Kurz nach Erscheinen des Buchs, für das Joan Didion den National Book Award erhält, stirbt auch Quintana.
Joan Didion:
Das Jahr magischen Denkens.
Aus dem
Amerikanischen von
Antje Rávic Strubel.
Claassen Verlag,
Berlin. 255 S., 18 €
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