„Oceane“ an der Deutschen Oper: Die Fremde aus dem Meer
Basierend auf einem Novellenfragment von Theodor Fontane: die überaus gelungene Uraufführung von Detlev Glanerts Oper „Oceane“ an der Deutschen Oper.
Dunkelheit. Stille. Einssein. So fängt es an. Dann in der Ferne Stimmen, der Chor, erste Streicher. Und der Gesang der einen, um die sich hier alles dreht: Oceane. Nur Töne ohne Worte, ohne Inhalt, denn da, wo sie herkommt, hat Sprache keine Bedeutung. Sie setzt ein mit einem a, dann ein b. Kleine Sekunde. Dann zurück zum a, danach ein Sprung zum h: wieder ein Halbton mehr. So arbeitet sich Oceane in Sekundschritten nach oben, es ist ihre Signatur. Zugleich erscheint ihr Bildnis auf der Leinwand, Zoom, immer näher, bis das Auge den ganzen Rahmen ausfüllt. Die Pupille scheint sich zu verflüssigen, in ihr wogen Wellen hin und her. Das Publikum hat zwar nicht die schaumgeborene Venus vor sich, aber wird doch Zeuge eines Gebärvorgangs: Das Meerwesen verlässt sein Element, um zu den Menschen zu kommen.
„Oceane“ heißt das neue Werk von Detlev Glanert, das am Sonntag an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt wurde. Aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen kommt es derzeit zu einer Häufung von Uraufführungen an Berlins Opernhäusern, die hochwillkommen ist und einem alten Gedankenexperiment neue Nahrung gibt: Könnten nicht mal alle Häuser „Zauberflöte“ und „La Traviata“ in die Besenkammer stellen und zwei Jahre lang nichts als Uraufführungen spielen, wie es im 18. und 19. Jahrhundert der Normalfall war? Die Wahrnehmung zeitgenössischen Musiktheaters würde sich radikal verändern. Zu hoffen ist: positiv. Aktuell bleibt nur der Zufall. „Oceane“ war für 2017 geplant, wurde dann wegen Aribert Reimanns „L’Invisible“ verschoben und wirkt jetzt wie ein geplanter Beitrag zum Fontane-Jubiläumsjahr. Das Stück beruht auf dem wenig bekannten Novellenfragment „Oceane von Parceval“ von Theodor Fontane. Der Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel hat aus den nicht immer opernfreundlichen Milieuschilderungen des Dichters ein dramatisch zugespitztes Libretto geformt.
Die Hauptfigur ist sprachlos - welche Lösung findet der Regisseur?
Ob Undine, Melusine, Rusalka oder die Kleine Meerjungfrau: Meist haben männliche Literaten sich die Frau als urwüchsiges, der Natur näherstehendes und der Ratio eher abgewandtes Wesen ausgemalt. Heute würde man das wohl Sexismus nennen. Auch Oceane gelangt in eine Umgebung, die sie nicht versteht. Das schon in Dvoráks „Rusalka“ virulente Problem, dass die Hauptfigur vor allem sprachlos ist, lösen Glanert und Treichel, indem sie Oceane immer wieder an den anderen Figuren vorbei, von Meer, Wind und Wolken singen lassen, was bei diesen auf Unverständnis stoßen muss. Ihr „Prinz“ ist Martin von Dircksen, Gast eines Ostseehotels in Heringsdorf. Der nervös-fiebrige Tenor von Nikolai Schukoff passt gut zum völligen Unvermögen Martins, in Oceane etwas anderes als eine schillernde Oberfläche zu erkennen.
Ihr Auftritt wird, ähnlich wie der von Bizets Carmen, lange vorbereitet. Maria Bengtsson gibt ihr die Aura einer bleich- blassen Schönheit, die – aus Sicht der vom Chor (Jeremy Bines) repräsentierten Hotelgesellschaft – alles falsch macht: Sie tanzt wild und animalisch, sie zeigt keine Trauer beim Anblick eines toten Fischers. Bengtssons Sopran, der in der Höhe nicht prachtvoll prunkt, sondern ätherisch dünn und durchscheinend wird, symbolisiert die fragile Identität dieser rätselhaften Figur. Wir wissen, warum sie ihr Element verlassen hat: Sie will Gefühle spüren. Warum das nicht klappt, bleibt im Dunklen.
Oceane geht ins Wasser zurück
In einer zentralen Picknickszene presst sie Martin einen Kuss auf die Lippen, der prompt die Verlobung ausruft. Ohne zu realisieren, dass Oceane in diesem Augenblick beschließt, ins Wasser zurückzukehren. Denn sie hat gar nichts empfunden. Sie ist für die Hotelgesellschaft und weitere Figuren – darunter Martins Freund Albert Felgentreu (Christoph Pohl), die nur am Geld interessierte Hotelbesitzerin Madame Louise (Doris Soffel) und Oceanes unbekümmerte Begleiterin Kristina (Nicole Haslett) – Zumutung und Chance zugleich. Sich dem Fremden zu öffnen und darin das Eigene zu erkennen, eine Individuation im Sinne C.G. Jungs, ist die Aufgabe, an der alle in dem Stück scheitern.
Detlev Glanert zeigt in seiner elften Oper erneut, welch selbstbewusster Traditionalist er ist. Seine von Donald Runnicles am Pult mit bedingungslosem Engagement umgesetzte Musik ist Stimmungszauberei, effektvoll, ohne banal zu werden, präzise und auf den Punkt komponiert, nichts hängt durch. Einzig die Pause erscheint überflüssig; aus den Eindreiviertelstunden hätte Richard Strauss mit Sicherheit einen Einakter gemacht. Glanert sagt, er wolle die Gattung aus sich heraus voranbringen, nicht komplett mit ihr brechen. Seine Mittel verfehlen ihre Wirkung nicht: Bombastisches Schlagwerk in der Kussszene, das Meer symbolisierende und in Glanerts Oper „Solaris“ (2010) bereits vorentwickelte Liegetöne bei den Auftritten Oceanes. Und ein knöchern-altertümlicher Choral beim Gebet des Pastors Baltzer, Gegenspieler der Protagonistin und neben dieser die interessanteste Figur. Er formuliert das allgemeine Unbehagen am greifbarsten. Religion begreift er nur noch als Gerüst zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Albert Pesendorfer verleiht ihm verstörende Körperlichkeit.
Aus Fontanes Epoche leicht in die Zukunft geschubst
Regisseur Robert Carsen schubst die Szene aus Fontanes Epoche leicht in die Zukunft, ins Jahr 1914, und zeigt in einer schwarz-weißen „Tod in Venedig“-Ästhetik eine Gesellschaft, die bereit ist, sich in den Abgrund zu stürzen. Immer wieder steht Oceane in Caspar-David-Friedrich-Manier mit dem Rücken zum Publikum und starrt auf die stumm bewegte Unendlichkeit des Meeres, in dem sie schließlich musikalisch und visuell versinkt (Videotechnik: Robert Pflanz). Entspannt, gelöst, lachend nehmen Glanert und Treichel den enthusiastischen Publikumsjubel entgegen. Da stehen zwei, die spüren, dass sie gerade eine der gelungensten neuen Opern der letzten Zeit produziert haben.
Nächste Vorstellungen am 3., 15., 17. und 24. Mai