Wintergarten Berlin: "Der helle Wahnsinn": Die Freaks sind los
Krause Story, tolle Show: „Der helle Wahnsinn“ im Berliner Wintergarten verschmilzt Varieté und Musical.
Respekt, Wintergarten! Dass ausgerechnet das der leichten Unterhaltung verpflichtete Haus an der Potsdamer Straße mal als Vorreiter der Inklusion im Varieté fungieren würde – da wäre man nie drauf gekommen. Wobei die Irren in der von Regisseur und Autor Markus Pabst komplett in der Psychiatrie angesiedelten Show „Der helle Wahnsinn“ in Wahrheit allesamt pumperlgesunde Artisten, Sänger, Tänzer, Komiker sind – und damit auch schon ein bisschen beschickert.
So wie Szenegröße Rummelsnuff, der bisher als Musiker, Bodybuilder und Berghain-Türsteher von sich reden machte und hier als „Seemann Hans“ Kartoffeln zerquetscht, Telefonbücher zerreißt, rhythmisch mit den Brustmuskeln zuckt und „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ brummt. Oder Doris Maxheimer, die in der jugendverliebten Körperkunstbranche mit ihren skandalösen 69 Jahren nichts Besseres zu tun hat, als ihre schütteren Locken in einer virtuosen Vertikaltuchakrobatik fliegen zu lassen. Das ist Jahrmarkt, das sind Freaks, das ist Schauen und Staunen, aber das ist auch Politik.
Markus Pabst, der schon mit „Dummy“ oder „Soap“ gezeigt hat, dass es in Berlin keinen ideenreicheren Showentwickler gibt, will es diesmal richtig wissen: Tingeltangel mit provokant volksaufklärerischem Aspekt. Zusammen mit dem für die Musik verantwortlichen Sänger und Pianisten Jack Woodhead und dem Schlangenmenschen David Pereira hat er die 1947 spielende Geschichte des schwulen Freiherrn von Heymann (Woodhead) ausgeheckt, der mit rosa Winkel im KZ Buchenwald saß und im Nachkriegsdeutschland nun aus demselben Grund – Paragraf 175! – in die Klapse eingewiesen wird. Dort verguckt er sich in den „Zigeunerjungen“ Punka (Pereira), der die Nazis als Mädchen verkleidet in einem Wanderzirkus überlebt hat. Für dessen Lebensgeschichte wiederum interessiert sich ein US-Filmproduzent. Weshalb Heymann mit den überraschend talentierten Irren eine schräge Revue im Berliner „Cabaret“-Stil der Zwanziger anzettelt, um möglichst auch von „Mister Wonderful“ entdeckt zu werden. Uff.
Natürlich sind die Mitglieder des homosexuellen Kreativteams Entertainer genug, um über so viel selbstbewusster Aneignung (und Ausbeutung, ähem) der eigenen Diskriminierungsgeschichte Spaß und Spiel nicht zu vergessen. Was in der dichten Folge der akrobatisch, musikalisch und darstellerisch durchweg erstklassigen Nummern immer mal wieder auf Kosten der eh nur durch Texteinblendungen zu verstehenden Story geht. Und besonders zu Beginn der Show angesichts des pittoresken Schmuddelbühnenbildes und der von Ticks geschüttelten Jammergestalten auch Befremden weckt.
Je länger der in der ersten Hälfte hübsch melancholische und in der zweiten Hälfte hemmungslos knallende zweieinhalbstündige Abend geht, desto mehr akzeptiert man das Setting. Was übrigens nicht am übertheatralisch tuckig auftretenden Jack Woodhead liegt oder der wohlfeilen Nazi-Veräppelungsfolklore, sondern daran, dass hier zum ersten Mal eine kongeniale Verschmelzung von Varieté und Musical, von Akrobatik, Gesangs- und Tanznummern, in Berlin gelingt. Halb gare Versuche gab’s da in den letzten Jahren einige. Auch hier im Wintergarten, wo selbst die großartige Entertainerin Katharine Mehrling in „Am Rande der Nacht“ nicht verhindern konnte, dass Musik und Gesang die artistischen Einlagen wie Fremdkörper umspülten. Eine ermüdendes Gefühl, das sich in „Der helle Wahnsinn“ eigentlich nur einstellt, als mit der Figur „Sarotti“, dem einst als „Neger“ verhöhnten dunkelhäutigen Seiltänzer Angel, auch noch dieser Rassismus durchgeturnt werden muss.
Toll ist die aus aus der Cellistin Ashia Grzesik und drei Mitstreitern bestehende Band, die von Jahrmarktsmusik über Jazz bis Rock hingebungsvoll das Retromaterial der Musikgeschichte zitiert. Als Gesangssolistin wird sie nur von Sara Bowden in der Rolle der verrückten „Somalso“ überboten. Das ist Schizophrenie, die gefällt und Vergnügen macht.
Wintergarten Varieté, bis 5. Oktober
Gunda Bartels
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