William Kentridge inszeniert "Lulu" in Amsterdam: Die Frau ohne Eigenschaften
Alban Bergs Lulu ist nicht zu fassen, wie eine Leinwand, auf die Männer ihre Obsessionen projizieren können. Gelingt es William Kentridge in Amsterdam, das leeren Zentrum dieser Oper zu füllen?
Ein Strich aus glänzender Tinte, schwarz, fett an den Rändern abbröckelnd. Dann noch einer, kraftvoll gezogen. Man sieht die Hand des Künstlers, wie sie bedrucktes Papier bemalt, vergilbte Seiten eines alten englischen Wörterbuchs: Upspring, v. OE 1. Of Plants, etc: To spring up, to grow b. Fig. To come into being, steht da. Die schwarze Tinte scheint in die Buchstaben kriechen zu wollen, scheinbar festgefügte Bedeutungen, Zeichen und Begriffe lösen sich auf, alles fängt an zu tanzen. Vermischung, Verwirbelung ist seit jeher eine Stärke des Südafrikaners William Kentridge. Zeichnung, Film, Animation, Installation, Tanz: Er legt sich ungern auf ein Genre allein fest. Auf der letzten Documenta wurde seine Videoarbeit „The Refusal of Time“ gefeiert, jetzt ehrt ihn gerade das Eye Filmmuseum in Amsterdam mit einer Ausstellung. Und zeitgleich ist Kentridge auch auf der anderen Seite des IJ, in der Innenstadt, präsent: als Regisseur von Alban Bergs „Lulu“ an der Nederlandse Opera, die sich seit einiger Zeit „Nationale Opera & Ballet“ nennt.
Kentridge inszeniert – exakt eine Woche nach Dmitri Tcherniakov in München – ein Stück, in dem nichts festgefügt ist, weil ihm das Zentrum fehlt. Im riesigen leeren Mittelpunkt dieser Oper steht und tanzt und kämpft das Mädchen Lulu, eine Kindfrau. Das weiße Tuch, das Mojca Erdmann trägt, wirkt wie eine Leinwand, auf die jeder der zahlreichen Männer sein eigenes Begehren projiziert, sich jeder seine eigene Lulu schafft. Wer sie wirklich ist, bleibt ein Rätsel, und so sind auch ihre Namen austauschbar: mal heißt sie Lulu, mal Eva, mal Mignon.
Über die breite Amsterdamer Bühne legt Kentridge einen Film
Alles steht auf schwankendem Grund – so wie die Zeit, in der Berg die Oper schrieb, die 1930er Jahre. Das war es, was Kentridge gereizt hat, wie er sagt: Im Schwarz-Weiß seiner Tintenarbeiten und Holzschnitte soll sich das Zeitalter der Extreme spiegeln, das Aufeinanderprallen radikaler Ideologien, der Schwund aller altbewährten Sicherheiten. Über die breite Amsterdamer Bühne legt er einen Film – womit er auch verweist auf die Genese dieses völlig neuartigen Mediums in der Weimarer Republik –, projiziert eine Flut an Figuren, abstrakte und konkrete, auf die Kulissen. Die Züge Arnold Schönbergs sind dabei, genauso wie die von Alban Berg, in einer Szene, in der der Komponist Alwa (Daniel Brenna) auftritt. Nomen es omen, Berg schuf bekanntlich in Alwa ein Abbild seiner selbst und lässt ihn über Lulu singen: „Über die ließe sich freilich eine schöne Oper schreiben.“
Das Verfahren, Film und Bühne zu verschmelzen, erinnert ein wenig an Barrie Koskys rasend populäre Inszenierung der „Zauberflöte“ an der Komischen Oper, wo freilich die Sänger noch raffinierter in die Animation integriert werden. In Amsterdam mag Kentridges oft bewährte Vermählung der Genres hingegen keinen Zauber zu entfalten. Der Film wirkt platt über die Szene gelegt, ohne dass sich erhellende Wechselwirkungen bilden würden. Fokussierung täte not. Unter der Bilderschwemme lauert eine konzeptionelle Leere, weil Kentridge – hier eben doch ganz bildender Künstler und kein Regisseur – die Sänger äußerst konventionell in den Kulissen herumstehen lässt. Das Ergebnis, spätestens im (von Friedrich Cerha nach Bergs Tod ergänzten) dritten Akt: Ermüdung.
Mojca Erdmann singt eine weitgehend charakterfreie Lulu
Was auch an Mojca Erdmann liegt – obwohl sie sehr präzise, wenn auch mit sprunghaften Registerwechseln singt. Aber die Tatsache, dass Lulu eine Frau ohne Eigenschaften ist, hat sie offenbar zu sehr verinnerlicht – oder Kentridge hat sie allein gelassen. Jedenfalls spielt und singt Erdmann fast komplett ohne Charakter, eine Darbietung, die vorbeirauscht, ohne dass man sich an irgendwas festhalten, festkrallen könnte. Die Frau als willfähriges Opfer, dieses Klischee klopft sie kräftig fest, und unwillkürlich wünscht man sich eine der Lulu-Interpretinnen aus jüngster Zeit herbei, die zumindest eine Deutung angeboten haben, die versucht haben, der Figur Fleisch und Blut und eine Geschichte zu geben, etwa die feurige Marisol Montalvo in Basel und Berlin, hier ebenfalls an der Komischen Oper. An Lulus Seite überzeugt Jennifer Larmore stimmlich als Gräfin Geschwitz mit tiefdunkelrotem, dalidaeskem Mezzo, bleibt aber szenisch zu verhuscht und innerlich unbeteiligt. Dass diese Gräfin als einziger Mensch Lulu aufrecht liebt, für sie ins Gefängnis geht und ihr schließlich im Tod nachfolgt, das beglaubigt Larmore zu keiner Sekunde. Franz Grundheber singt einen knarzigen Schigolch, eine Paraderolle für ihn, Johan Reuter ist als Dr. Schön und später als Jack the Ripper so gockelhaft und zugleich souverän von sich eingenommen, dass man Lulus Faszination für diesen Mann, der fast ihr ganzes Leben begleitet hat, verstehen kann. Mit Ausnahme Werner van Mechelens als bärbeißiger Athlet entwickelt keiner der übrigen Sänger eine nennenswerte Aura, auch nicht der Alwa von Daniel Brenna.
Am Pult des Concertgebouw Orkest ist Lothar Zagrosek für Fabio Luisi eingesprungen, der wegen eines familiären Unglücks absagen musste. Die Musik der Moderne ist Zagroseks Herzensangelegenheit, wovon man sich in Berlin an der Deutschen Oper überzeugen konnte, wo er ein überwältigendes „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ erarbeitet hat. Sehr analytisch macht er sich in Amsterdam an die Partitur, holt die vielen Referenzen an musikalische Formen, die Berg hier (wie schon im „Wozzeck“) eingebaut hat, an die Oberfläche und fängt dabei eine gewisse Sinnlichkeit ein. Dennoch: Stehende Ovationen gibt’s erst nach langen zögerlichen Minuten, für Amsterdamer Verhältnisse eine Ohrfeige. Wer sich in den Kentridge-Kosmos einarbeiten will, wird mit dieser Inszenierung bestens bedient. Wer mehr über „Lulu“ erfahren möchte, kaum.
Udo Badelt