Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“: Durchs tönende Universum
Großer Saisonstart an der Deutschen Oper: Lothar Zagrosek dirigiert Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“.
Nein, liebe Eltern: Auch wenn der Titel es nahelegt – hier geht es nicht um die neue Weihnachtskinderproduktion. Die kommt in einem Monat an der Komischen Oper heraus, wird – wir sind in Berlin! – halb auf Türkisch, halb auf Deutsch gesungen und heißt „Ali Baba und die 40 Räuber“.
„Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Helmut Lachenmann, mit dem der neue Intendant Dietmar Schwarz am Sonnabend offiziell seine Amtszeit an der Deutschen Oper einläutete, ist dagegen ein Werk strikt für Erwachsene. Und mehr noch: Für Menschen, die bereit sind, im Musiktheater auf Melodien zu verzichten, ja sogar auf jedwede Art von Tönen im traditionellen Sinne.
Lachenmann nämlich setzt seine Partitur aus Geräuschen zusammen. Nicht aus akustischen Fundstücken von der Straße, sondern aus Geräuschen, die mithilfe von menschlichen Stimmbändern und konventionellen Instrumenten erzeugt werden. Durch neuartige Spieltechniken und ausgefallene Klangerzeugungsmethoden. Aus Abermillionen dieser Sounds entsteht in knapp zwei Stunden Aufführungsdauer eines der faszinierendsten Werke der zeitgenössischen Kunst.
Seit der Uraufführung 1997 in Hamburg haben sich nur drei Städte an das „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ gewagt: Stuttgart, Wien und Salzburg. Der Aufwand ist gewaltig, vor allem die Orchestermusiker müssen erst einmal davon überzeugt werden, alles, was sie über den korrekten Gebrauch ihrer Instrumente gelernt haben, beiseitezulassen. Lothar Zagrosek, dem Dirigenten der Uraufführung, ist das in Berlin auf bewundernswürdige Weise gelungen. Geschmeidig und entspannt wirken seine Bewegungen, ganz leicht scheint es ihm zu fallen, die überall im Raum verteilten Sänger und Musiker zu koordinieren.
Weil derzeit an der Deutschen Oper noch Modernisierungsarbeiten an der Obermaschinerie laufen, also an Beleuchtungsbrücken und Kulissenzügen, wird vor dem Eisernen Vorhang gespielt. Ein Glücksfall, denn so kann Fritz Bornemanns holzvertäfeltes Zuschauerhaus zum intimen Konzertsaal werden. Viel näher als gewohnt ist der Besucher hier am Geschehen.
Die unteren Logenreihen rechts und links sind für Mitwirkende reserviert, der Orchestergraben wurde hochgefahren, die ersten Parkettreihen überbaut, und auch im Hochparkett sind weitere Musiker platziert. Ausstatter Christof Hetzer bleibt da nur die Flucht in die Höhe. Auf drei Etagen türmt er seine Bühneninstallation übereinander. Da ist der nüchterne Hochschul-Übungsraum mit Neonlicht und einem alten Flügel, an dem zwei Studentinnen in braven Faltenröcken hocken. Dann folgt ein Wohnzimmer, in dem ein Mann Amateuraufnahmen einer schönen Blondine im Bikini betrachtet. Ganz oben schließlich erahnt man ein improvisiertes Labor in einem Bretterverschlag. Durch die Etagen dieses Hochhauses windet sich ein Luftschacht, in dem zwei Tänzer hausen. Wenn sich der orchestrale Geräuschpegel erstmals ins Schrille steigert, entbrennt zwischen ihnen ein kunstvoller Revierkampf in Zeitlupe (Choreografie: Sommer Ulrickson).
Der Regisseur versucht erst gar nicht, Andersens traurige Geschichte zu erzählen
Solche phonstarken Ausbrüche aber sind bei Lachenmann die Ausnahme. Über weite Strecken bleibt das Klangbild leise und zart. Wer bereit ist, sich auf jenes „offene Hören“ einzulassen, das der Komponist seinem Publikum abfordert, empfindet diese Musik nie als dissonant, sondern nur als ungegenständlich, nie als kalt, sondern im Gegenteil als schön, mitunter sogar als lieblich. Auch wenn die Geräusche mit konventionellen Kulturwerkzeugen erzeugt werden, ist da eine Naturnähe: als Abstraktion von Waldesrauschen, Meeresbrandung, Windsbrauterzählungen.
Still sitzend bewegt sich der Zuhörer in einem weiten Klangraum, treibt schwerelos durchs tönende Universum. Und bekommt doch irgendwann Platzangst, fühlt sich auf sich selbst zurückgeworfen, hilflos diesem rätselhaften Kosmos ausgeliefert, der sich offenbar doch ganz minutiös in eine Partitur bannen lässt.
Natürlich ist das „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ keine Oper. Ein autonomeres Gebilde aus Vokal- und Instrumentalklängen lässt sich kaum vorstellen. Lachenmann selber hat die Formel „Musik mit Bildern“ gewählt. Was Regisseur David Hermann optisch anbietet, die Slow-Motion-Bewegungen der beiden hingebungsvoll agierenden Solosoprane Yuko Kakuta und Hulkar Sabirova, den Gastauftritt des „nassen Onkels“, der Silvesterraketen in leere Sektflaschen steckt, sind Assoziationsangebote. Die helfen oder nerven, je nachdem, ob man mehr Augen- oder Ohrenmensch ist.
Dass Hermann gar nicht erst versucht, Andersens traurige Geschichte zu erzählen, ist immerhin konsequent – da außer zwei kurzen unbegleiteten Texteinspielungen sowieso kein Wort zu verstehen ist. „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ brauchte Lachenmann, um seine Fantasie zu entzünden. Die Verwendung – und totale Verfremdung – von Zitaten Leonardo da Vincis sowie Gudrun Ensslins ist darum prätentiös, ebenso wie beim „Prometeo“ seines Lehrers Luigi Nono, dessen ebenfalls unhörbar gemachte Texte gleich die ganze Menschheitsgeschichte umgreifen wollen. Das große Kunstwerk aber ist stets klüger als sein Schöpfer, braucht keine komplexen Gedankenkonstrukte, um sich zu erklären. Weil es unmittelbar wirkt.
Helmut Lachenmann ist ein brillanter Denker, der virtuos den Diskurs-Sound der siebziger Jahre beherrscht, in dem es stets um Widerstand gegen eine Gesellschaft geht, „die – ihrer Entfremdetheit durchaus heimlich bewusst – aus nacktem Selbsterhaltungstrieb sich an ihr gewohntes ästhetisches Weltbild verzweifelt anklammert“. Vor allem aber kann er auf wunderbar ätzende Weise seine kommerziell erfolgreichen Kollegen zur Schnecke machen. Oder besser gesagt zur „Made im Speck des tonalen Kadavers“. Parasiten der Vergangenheit sind das, die sich „fett und behaglich in der alten Rumpelkammer der verfügbaren Affekte wieder häuslich eingerichtet“ haben, um die Sehnsucht der zahlenden Masse nach einer intakten Welt durch „eine schillernde ästhetische Fata Morgana zu beschwichtigen“!
Am Ende seines „Mädchens mit den Schwefelhölzern“ gerät allerdings auch Lachenmann kurz in die Falle der Emotionsabbildung, zumindest mit einem Fuß. Orchester und Sänger werden pathetisch, gustavmahlerisch, mit Totentrompeten, Choralsplittern, Spannungsspiralen der Streicher. David Hermann lässt seine Tänzerin (Bini Lee) prompt doch noch im Hemdchen auftreten, zum Tanz mit Gevatter Tod, bevor eine Filmeinspielung mit galaktischem Sternennebel sie verschluckt. Zwei Etagen weiter unten erscheint derweil Mayumi Miyata, die das Solo auf der japanischen Mundorgel Shô bläst, zurechtgemacht als Mélisande mit rotem Kunsthaar bis zum Po, Puffärmelkleid und schwarzen Schnürstiefeletten. Übelster Intellektuellenkitsch.
„Wir greifen zu den ungebrochen magisch geladenen Geräten und Elementen aus anderen Kulturen, ohne sie selbst verinnerlicht zu haben“, merkt der Komponist selbstkritisch zur Wahl der exotischen Mundorgel an. „Dies ist alte europäisch-parasitäre Praxis.“ Dennoch: Ein Abend, der sich ins Gedächtnis brennt.
Nur noch am 19., 20., 22. und 23.9.
Frederik Hanssen
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