Neue Bücher von César Aira: Die Flucht nach vorn ist alles, was mir bleibt
Er schafft es, mit Techniken des Realismus bewegende Geschichten zu erzählen: Der argentinische Schriftsteller César Aira mit neuen Büchern über Reisemaler und Marcel Duchamp.
„Es hat im Westen nur wenige wirklich gute Reisemaler gegeben." Der erste Satz der schönen Neuübersetzung von César Airas „Eine Episode im Leben des Reisemalers“ teilt die sachliche Klarheit von Kafkas ersten Sätzen („In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen.“). Mit klarem Reporter-Stil wird die Tür geöffnet ins Gewinkel eines Fantasiehauses, in dem man sich heimisch fühlen oder verlaufen darf. Mit dem Solitär Kafka teilt der 1949 in Argentinien geborene Aira nicht nur die Vermeidung von Schnörkeln. „Wenn ich irgendwann mal ohne Stil schreiben könnte, würde ich endlich leben“, bemerkt er in dem parallel erschienenen Essayband „Duchamp in Mexiko“. Mit Kafka teilt er auch den enormen Schaffenswillen, selbst wenn Airas Produktivität deutlich überlegen ist.
„Eine Episode im Leben des Reisemalers“, in Argentinien zuerst 2000 erschienen, war ungefähr sein 30. oder 40. Buch. Sein Oeuvre umfasst etwa 100 Romane, Erzählbände, Essays, alle geprägt von ausgemachtem Schreibvergnügen, neckischer Fabulierlust und einer kindlichen Freude am Erzählen. In Anlehnung an die Surrealisten, aber anders als André Bretons Automatismus, durch den das Unterbewusste vorrational aufs Papier befreit werden sollte, entwickelte Aira eine Technik, die er fuga hacia adelante nennt (Flucht nach vorn). Es wird niemals überarbeitet und nur vorwärts ins Offene geschrieben. In Airas Essays wird als Vorreiter für seine „Utopie vom Neuen“ der im Titel erwähnte Marcel Duchamp genannt, da Duchamp mit enormer Langsamkeit und Konzentration die Möglichkeiten der Kunst neu ordnete.
Kein Vergleich zu Aira in der Gegenwartsliteratur
An dieser Messlatte entwirft Aira eine Poetik der Komprimierung, aus der sich die Spannung seiner Texte speist. Denn weil es scheint, dass Duchamp bereits „alles geschaffen hat“, bleibt nur noch ein Minimum für Neues übrig. „Doch dieses Minimum, eben weil es ein Minimum ist, lässt viel freien Raum, um weiterzumachen.“ Große Kunstwerke entstehen nicht voraussetzungslos, sondern durch Erkennen von Voraussetzungen und durch die Überschreitung einer Linie, die wegen dieser Voraussetzungen unüberschreitbar scheint.
In der zeitgenössischen spanischsprachigen Literatur ist Aira – neben dem verstorbenen Chilenen Roberto Bolaño und dem Katalonier Enrique Vila-Matas – der lausbübischste Linienüberschreiter. Während man in den Essays ins Nähkästchen von Airas Poetologie blickt, erlebt man ihn im „Reisemaler“-Roman in der Blüte seiner Praxis. Für Aira gibt es in der derzeitigen Gegenwartsliteratur keinen Vergleich, denn er schafft es, mit den Techniken des Realismus eine bewegende Geschichte zu erzählen und sie dabei mit Bildern und Szenen auszustaffieren, die an Surrealismus, magischen Realismus und den kategorielosen Kosmos von Borges erinnern – indes einmalig sind.
Der Reisemaler ist der deutsche Johann Moritz Rugendas, ein Zeitgenosse Alexander von Humboldts, der forschungsbegierig die Landschaften Mittel- und Südamerikas auf Leinwand bannen will. „Seine zweite und letzte Reise nach Amerika dauerte sechzehn Jahre, von 1831 bis 1847. Mexiko, Chile, Peru, erneut Brasilien und Argentinien waren Schauplatz seiner mühevollen Erkundungszüge und Hunderte, Tausende von Gemälden ihr Ergebnis.“ Mit einem Reisepartner begibt er sich auf die Suche nach der Perfektion „malerischer Darstellung der Naturphysiognomie“, ein Humboldtsches Ideal, das es dem Bildbetrachter ermöglichen soll, die „Welt in ihrer Gesamtheit“ zu erfassen. Vielleicht handelt es sich bei Rugendas’ Ideen um die bauchrednerischen Gedanken des Autors, sind doch die auf den ersten Blick zerstreuten Szenen und Bilder dieses Romans kunstfertig ineinandergeschlungen und ergeben doch auch die gelegentlich fragmentarischen Werke die Gesamtheit einer ausgefuchsten Kunst.
Wie ein in Sprache gefasstes Schmunzeln
Obwohl Aira hier leidlich das Leben einer historischen Person rekonstruiert, ist der Roman keine Biografie. Jeder Leser begreift schnell, dass die Handlung nicht die Unruh ist, die dieses Uhrwerk am Ticken hält. Es ist die eisklare Sprache, in der wenig auserzählt und vieles angedeutet ist. Es sind die häufig zart-lyrischen Wendungen, die wie ein in Sprache gefasstes Schmunzeln sind, wenn etwa von einem Ort erzählt wird, an dem „die Berge zum Greifen nah schienen und die Himmel bis zur Langweiligkeit strahlend blau“. Und gerade weil sich Airas Literatur nicht an Plots klammert, sind sie schließlich das Überraschendste. Denn in der Flucht nach vorn wagt er eigentümliche Ausfallschritte. Auch Rugendas’ Flucht nach vorn ist gebrochen durch beeindruckende, tragische und komische Hindernisse. So kann man etwa die Frage, welcher Mensch ein noch größerer Pechvogel ist als derjenige, der vom Blitz getroffen wird, durch das Leben von Johann Moritz Rugendas als eindeutig beantwortet betrachten.
Derzeit liegt auf Deutsch eine Handvoll von Aira in Neuübersetzungen bei Matthes & Seitz vor, mit der ehrenhaften Idee einer „Bibliothek César Aira“. Im letzten Essay des Duchamp-Bandes rekapituliert Aira die Wünsche seiner Jugend: „Ich wollte kluge, bedeutsame Dinge sagen, Dichter und Essayist werden, den Nobelpreis erringen.“ Was die richtige Welt, die vielleicht in den Erzählungen von César Aira spielt, dazu sagt, wird sich am heutigen Donnerstag in Stockholm zeigen.
César Aira: Eine Episode im Leben des Reisemalers. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. 128 S., 16 €.
César Aira: Duchamp in Mexiko. Herausgegeben und übersetzt aus dem Spanischen von Klaus Laabs. 136 S., 16 €. Beide erschienen bei Matthes & Seitz, Berlin 2016.
Jan Wilm
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