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Stimmungmache auf dem Tour-Bus von Boris Johnson.
© dpa

Timothy Garton Ash zur Brexit-Debatte: Die Fakten wurden auf den Müll geworfen

Die Volksabstimmung ist wichtig, aber die Pro-Brexit-Kampagne wird von Lügen und Manipulationen getragen. Der Austritt Großbritanniens gefährdet die britische Demokratie und den Kontinent. Ein Gastbeitrag.

Direkte Demokratie, Volksabstimmungen – das bewegt nicht nur die Briten. Darüber ist in Zeiten hochschießender Nationalismen grundsätzlich zu reden: Wie Demokratie sich verteidigt.

Geht raus aus dem Haus, macht aus diesem Referendum eine wahrhaftig demokratische Abstimmung! Lassen wir nicht zu, dass es zu einer Orgie der Manipulation wird. Sprechen wir mit unseren Freunden, unseren Nachbarn, wie im alten Athen!

Uns bleibt bis zur Abstimmung am Donnerstag nur noch wenig Zeit, um Großbritannien in der Europäischen Union zu halten. Weil die Umfragen ein derart dichtes Kopf-an-Kopf-Rennen voraussagen, und da die Öffentlichkeit den Medienzirkus der beiden Seiten gründlich satt hat, kommt es jetzt auf unsere persönlichen Stimmen an, auf uns als Individuen, die mit Freunden, mit Nachbarn sprechen.

Wenn jeder zehn Leute anspricht, erreichen wir eine Million

Politisch ist diese Woche für Großbritannien die wichtigste Woche seit vierzig Jahren – und eine der wichtigsten für ganz Europa. Wenn Sie in Großbritannien leben und wollen, dass wir in der Europäischen Union leben, teilen Sie das jedem mit, den Sie kennen. Versuchen Sie, auch die zu erreichen, von denen Sie wissen, dass sie noch unentschieden sind oder zum Weggang aus der EU tendieren. Verschicken Sie diesen Brief per E-Mail, rufen Sie die Tante an, den Großvater. Arbeiten Sie als Freiwilliger bei der Stronger-In-Website mit. Falls Sie per Post abstimmen, sorgen Sie dafür, dass Ihre Stimmzettel rechtzeitig eingeworfen werden. Folgen Sie dem Rat von Susan Vaughan.

Nachdem die auf den Straßen von Norwich aktiv geworden war, hat sie an den Guardian einen Brief mit dem Rat geschickt, dass „jeder von uns rausgehen und einfach zehn Menschen ansprechen soll“. Das werde ich selber machen. Wenn nur 100 000 von uns so handeln wie Susan Vaughan, haben wir eine Million Leute erreicht.

Sollten Sie nicht in Großbritannien leben, wie wäre es, wenn Sie in dem Fall einfach Textnachrichten oder E-Mails an zehn Freunde bei uns im Land senden? Ich will die ganzen Argumente dafür hier nicht noch mal wiederholen, warum das Los beider Unionen, der britischen Union (von England, Schottland und Wales, d. Red.) und der Europäischen Union vom Ausgang des Referendums abhängt, ganz zu schweigen von den ökonomischen Gefahren. Doch es geht auch noch um etwas, das über diese Argumente hinausweist: Es geht um die Qualität unserer Demokratie.

Das Ausmaß an Verlogenheit ist kaum zu ertragen

In den vergangenen Monaten habe ich mehrere Male feine, ältere Herren, einige von ihnen aus dem House of Lords hinter verschlossenen Türen in getäfelten Räumen davon murmeln hören, dieser ganze Unfug mit dem Referendum sei die Ursache des Übels. Es sei überhaupt eine schlimme Idee, in einer repräsentativen Demokratie die Bevölkerung direkt zu befragen. Mal davon abgesehen, inwieweit nicht gewählte Mitglieder des Oberhauses einen Teil der repräsentativen Demokratie darstellen, sehe ich durchaus, dass dieser Gedanke in den guten alten Zeiten einmal ein verfassungsgemäßes Argument sein konnte.

Doch längst sind Volksabstimmungen zu zentralen Fragen und Angelegenheiten Teil einer ungeschriebenen britischen Verfassung geworden, worauf auch der Verfassungsexperte Vernon Bogdanor hinweist. Und kaum eine Frage könnte so wichtig sein wie diese. Deshalb habe ich seit Längerem das Rein-Raus-Referendum zu Großbritanniens EU-Mitgliedschaft befürwortet, und ich rücke von dieser Position nicht ab, wie auch immer das Ergebnis ausfallen mag. „Lasst die britische Bevölkerung entscheiden“ hört sich nicht nur so an wie eine fundamental demokratische Sicht der Dinge. Es ist eine.

Gleichwohl ist das Ausmaß an Verlogenheit und Manipulation, das in dieser Kampagne zutage getreten ist, schlicht atemberaubend. Wir wussten von Anfang an, dass wir es mit einer überwiegend euroskeptischen Presse zu tun haben würden. Eben erst hat eine Analyse von Medieninhalten durch die Loughborough University ans Licht gebracht, dass die großen, landesweiten Tageszeitungen mit den höchsten Auflagen sich zu 82 Prozent auf die Seite der EU-Gegner gestellt hatten, und nur 18 Prozent der Artikel Argumente für den Verbleib in der Union enthielten. Selbst wenn man das gewohnt niedrige Niveau der Boulevardblätter berücksichtigt, markierten Titelgeschichten wie die der „Sun“ mit der Schlagzeile „Die Queen ist für den Brexit“ einen neuen Tiefstand an Irreführung.

Es geht um unser aller Zukunft

Stimmungmache auf dem Tour-Bus von Boris Johnson.
Stimmungmache auf dem Tour-Bus von Boris Johnson.
© dpa

Inzwischen tourt der Schlacht-Bus von Boris Johnson durchs Land, auf dessen Heck in riesengroßen Buchstaben eine Lüge prangt: „Wir schicken der EU jede Woche 350 Millionen britische Pfund!“ Auch wenn man die Summen nicht mitzählt, die Großbritannien durch die EU zurückerhält, muss man doch immerhin den Abzug mit im Sinn haben, den Margaret Thatcher mit der EU für das Land ausgehandelt hat, womit die Gesamtsumme für das Jahr 2015 bei 250 Millionen Pfund liegt.

Dessen ungeachtet finde ich Flugblätter in meinem Briefkasten, die zum Weggang aus der EU auffordern, und als „offizielle Information“, als Faktum diese Ziffer der 350 Millionen Pfund pro Woche nennen – „die Kosten für ein ganzes, neues Hospital.“ Sollte man sich jemals gefragt haben, wann die Wahrheit in Großbritannien, dem Herkunftsort des skeptischen Empirismus, zu Grabe getragen wurde, dann ist das die Antwort: In Großbritannien wurden Fakten im Namen der Fakten auf die Müllhalde geworfen.

Seit ich zuletzt über das Referendum geschrieben habe, beobachte ich, dass die BBC in ihren Beiträgen etwas widerstandsfähiger geworden ist, aber ich hege noch Zweifel daran, ob diese vorsichtige Unparteilichkeit die barocken Exzesse der Medien aufwiegen kann. Die entschlossenen Kreuzverhöre, denen sich Politiker in der Sendung „Question Time“ bei Fragen durch das Publikum stellen mussten, waren brillant. Außerdem gab es einige gute mediale Dokumentationen und Analysen. Aber die täglichen Nachrichten handeln die Thematik weiter auf der Ebene einer „Boris-gegen-Dave-Show“ ab.

Es geht um uns alle

Unlängst war am Ende eines Berichts davon die Rede, bei der Abstimmung am Donnerstag werde über das Schicksal nicht nur von Großbritannien entschieden, sondern auch über das von David Cameron – als wäre seines noch wichtiger. Wir können es gar nicht laut genug sagen: Es geht nicht um die. Es geht um uns. Um die Zukunft unserer Familien, unseres Landes, unseres Kontinents.

Darum müssen wir uns unsere Demokratie zurückerobern, nicht als Zuschauer bei einem sportlichen Wettkampf, sondern in einem Spiel, bei dem wir allesamt mit auf dem Platz sind. Es geht nicht um eine gelenkte Demokratie der Manipulateure, um das, was die Russen „politische Technologie“ nennen, sondern um Debatten von Angesicht zu Angesicht, in den Läden, den Kneipen, bei uns im eignen Zuhause. Echte Leute, die mit anderen echten Leuten diskutieren. So wurde Demokratie in ihren Anfängen bei ihrer Erfindung in Athen gehandhabt. Auf Versammlungen, auf dem Marktplätzen und in den Olivenhainen. So könnten wir das nicht ununterbrochen fortführen. Aber diese Woche, jetzt, zu diesem Zeitpunkt, müssen wir es tun. Wie Perikles. Wie Susan Vaughan.

Dieser Beitrag ist ursprünglich im "Guardian" erschienen. Übersetzt von Caroline Fetscher.

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