Das Burgtheater beim Theatertreffen: Die Erinnerung tritt an zum Staffellauf
„Die letzten Zeugen“ vom Wiener Burgtheater versammelt Holocaust-Überlebende auf der Bühne. Sechs Menschen im Alter zwischen 82 und 100 Jahre, die zwar nicht das Unfassliche erklären, aber berichten können, was geschehen ist.
Lucia Heilmann sitzt in der Kantine des Wiener Burgtheaters und schüttelt den Kopf. Es ist das zweite Mal, dass ihr während des Publikumsgesprächs diese Frage gestellt wurde. Das hängt ihr nach. Sie, die 83-jährige Jüdin, die den Naziterror in einem Verschlag überlebt hat und noch heute gelegentlich zusammenzuckt, wenn es klingelt, soll erklären, was damals, 1938, in den Köpfen der Täter vorging. Warum der nette Herr Nachbar schon einen Tag nach dem Einmarsch Hitlers in einer maßgeschneiderten SA-Uniform und blank geputzten Stiefeln auf dem Gang stand und „Judensau“ brüllte. Weshalb die sogenannten Reibpartien zur Volksattraktion wurden, bei denen jüdische Bürger unter den Augen eines johlenden Mobs mit der Zahnbürste Anti-Nazi-Parolen vom Gehsteig schrubben mussten. Vielleicht auch, weshalb KZ-Heimkehrer nach dem Krieg in Wien belauert wurden: „Und warum habt ihr überlebt?“ Weil Lucia Heilmann aber eine unerschütterliche Humanistin ist, fasst sie sich wieder und sagt entschlossen: „Dumm ist es ja nicht. Wen sollen die Leute auch fragen?“
Ja, wen? „Die letzten Zeugen“ heißt der Abend, der sechs Menschen zwischen 82 und 100 versammelt, die zwar nicht das Unfassliche erklären, aber berichten können, was geschehen ist. Lucia Heilmann, Vilma Neuwirth, Schoschana Rabinovici, Marko Feingold, Rudolf Gelbard und Ari Rath. Eine siebte Beteiligte, die Romni Ceija Stojka, starb im Januar 2013.
Das Projekt von Matthias Hartmann und Doron Rabinovici ist aus Anlass des 75. Jahrestags der November-Pogrome entstanden. Es basiert auf Autobiografien und Interviews, die der Schriftsteller und Historiker Rabinovici zu einer beklemmenden Collage verwoben hat. Sieben verschiedene Schicksale, die zusammen von einer Zeit der Entmenschlichung erzählen. Auf der Bühne tragen Burgschauspieler die Texte vor, einen „Staffellauf der Erinnerung“ nennt Rabinovici das. Die Zeitzeugen sitzen hinter einem durchsichtigen Vorhang, auf den ihre Gesichter projiziert werden, während sie den eigenen Geschichten und denen der anderen lauschen. Am Ende kommen sie jeweils einzeln nach vorn und formulieren ein Statement.
„Die Vorstellungen wühlen mich sehr auf“, sagt Lucia Heilmann. „Man könnte glauben, je öfter man die Erlebnisse hört, desto leichter wird es. Aber das Gegenteil ist der Fall.“ Nach den Aufführungen habe sie oft tagelang mit den Nachwirkungen zu kämpfen. Aber sie stellt sich der Erinnerung, unentwegt. Heilmann geht in Schulen, um ihre Geschichte zu erzählen, sie sagt jedes Interview zu. Das ist sie Reinhold Duschka schuldig, glaubt sie. Dem Freund ihres Vaters, der sie und ihre Mutter unter Einsatz des Lebens in seiner Metallwerkstatt versteckte, jahrelang. Und der es nach dem Krieg lange ablehnte, in Israel als einer der „Gerechten“ geehrt zu werden. „Er musste fürchten“, erzählt Heilmann nüchtern, „dass ihm die Kunden wegblieben, wenn in der Zeitung steht, dass er Juden gerettet hat.“
Marko Feingold setzt sich mit an den Tisch. Im Mai wird er seinen 101. Geburtstag feiern. Feingold ist noch immer Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde in Salzburg, ein Mann von hellwachem Geist. Am Morgen hat er drei Stunden vor einer Klasse aus Deutschland gesprochen, er war müde eigentlich, „aber sobald ich vor den Schülern stehe, bin ich wie aufgeputscht“. Die Erinnerung lebendig halten, damit sich die Geschichte nicht wiederholt. Das ist die Mission, der sich die Zeitzeugen verschrieben haben. Feingold hat den jungen Deutschen den Pass gezeigt, den ein Jude damals bekam. „Mit dem Eintrag: 3 Goldzähne oben, einer unten“. Geboren ist Feingold 1913 in Neusohl, damals österreichisch-ungarische Monarchie, heutige Slowakei. Von den Nazis wurde er 1939 in Prag verhaftet.
Feingold hat vier Konzentrationslager überlebt, darunter Auschwitz, seine Autobiografie trägt den Titel „Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh“. Es gibt darin eine Szene, die auch auf der Bühne erzählt wird. In Dachau hatte Feingold wegen der Mangelernährung am ganzen Körper Phlegmone bekommen, eitrige Entzündungen der Haut. Der Revierpfleger begann sie zu reinigen, eine unvorstellbar schmerzhafte Prozedur, und um sie erträglich zu machen, sollte Feingold singen, „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“. Er schrie wohl zweihundert Mal nur diese eine Zeile. „Ich wusste nämlich nicht, wie das Lied weitergeht!“
Warum sind Sie nach dem Krieg geblieben? Die Frage wird den Überlebenden häufig gestellt
Es ist schon nach Mitternacht, aber Heilmann und Feingold sagen, sie könnten nach den Vorstellungen stundenlang erzählen. Woher haben sie die Kraft gewonnen, damals? Was hat sie Grausamkeit, Willkür und Todesangst überstehen lassen? Lucia Heilmann und ihre Mutter mussten, nachdem Duschkas Werkstatt zerbombt worden war, in einem neuen Versteck ausharren, in einem Kellerabteil in absoluter Finsternis. Ein halbes Jahr lang. Eine Zeit, über die sie nicht spricht.
Warum sind Sie nach dem Krieg in Österreich geblieben? Das ist die Frage, die am häufigsten gestellt wird während der moderierten Diskussionen im Anschluss an die Vorstellung, die Teil der Inszenierung sind. „Weil ich wollte, dass es wieder meine Heimat wird“, sagt Feingold dann. Und Heilmann erzählt, dass sie eigentlich nach Australien gehen wollte, um Medizin zu studieren. Aber weil sie sich die Studiengebühren dort nicht leisten konnte, ließ sie sich in Wien zur Ärztin ausbilden.
Diese Publikumsgespräche sind wichtig, weil sie die Zeitzeugen als streitbare Bürger zeigen, die sich nicht auf die Rolle des Opfers reduzieren lassen. Feingold nutzt das Podium gern, um Spitzen gegen die österreichische Politik und ihre Verdrängungsseligkeit zu setzen. „Die Aufarbeitung der Geschichte kommt in Österreich nicht spät“, sagt er in der Kantine. „Sie kommt überhaupt nicht.“ Und Heilmann erzählt, dass sie nach einer Vorstellung einen antisemitischen Hetzbrief erhalten hat, in dem auch der Holocaust bestritten wurde. Sie ging damit zur Polizei. Und musste sich anhören, dass Holocaust-Leugnung nur ein Straftatbestand sei, wenn sie öffentlich erfolge. Gehn’s hoam, gute Frau. Es kommt einem da nicht mehr absurd vor, wenn sie erzählt, dass ihre Sorge war: Was, wenn im Publikum plötzlich eine Gruppe aufsteht und anfängt zu schmähen?
„Die letzten Zeugen“ ist in Wien ein Erfolg geworden, die Vorstellungen sind immer ausverkauft, am Ende ernten sie Standing Ovations. Ist das nicht ein Zeichen, dass sich etwas bewegt? „Sehen Sie“, sagt Heilmann, „1938 ist ein Prozent der Bevölkerung gegen Hitler gewesen. Dieses Prozent gibt’s jetzt auch.“ Nicht mehr lange hin, dann wird es keine Zeitzeugen mehr geben. Auch keine Täter. Aber an die, das betonen Lucia Heilmann und Marko Feingold unisono, verschwenden sie keine Gedanken. Heilmann erzählt dann noch, dass sie in Wien zur Trauerfeier für den in der ganzen Welt bekannten Simon Wiesenthal gegangen ist, weil es ihr ein Bedürfnis war. Zu der Zeremonie, sagt sie, „sind vielleicht 30 Leute erschienen“.
Haus der Berliner Festspiele, 13. Mai, 19 Uhr, 14. und 15. Mai, 19.30 Uhr
Patrick Wildermann