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Der kanadische Sänger, Dichter und Maler Leonard Cohen.
© AFP/Javier Soriano

Gedichtband von Leonard Cohen: Die dunkle Welt brennt lichterloh

Troubadour der Liebe und des Untergangs: Zwei Jahre nach seinem Tod erscheint Leonard Cohens Gedichtband „The Flame“.

Die poetische Stimme ist ein scheues Ding. Sie besteht nicht allein aus dem, was man gemeinhin Stil nennt, also einer Sprachgestalt, deren Wortverteilung und Satzmuster sich zählen, ordnen und messen lassen, sondern spricht durch sie hindurch. Sie knüpft sich auch nicht unmittelbar an Thema, Rolle und Geschlecht, sondern bildet den nicht imitierbaren Überschuss. Sie ist das, was einen jenseits alles Offensichtlichen anrührt. Ein Ton, der auch im Unvollkommenen hörbar werden kann, während die bloße Virtuosität ins Leere läuft.

Leonard Cohen hat dieser Stimme von Jugend an nachgejagt. Er hat, wie er 2011 in seiner Dankesrede zum Prinz-von-Asturien-Preis für Literatur einmal mehr bekannte, lange erfolglos den großen englischen Dichtern nachgeeifert, sie imitiert, bevor ihm der bedeutendste spanische Dichter des 20. Jahrhunderts die Augen öffnete. „Erst als ich – sogar nur in der Übersetzung – die Werke von Lorca las, verstand ich, was es heißt, eine Stimme zu haben. Es ist nicht so, dass ich seine Stimme nachgeahmt hätte; das würde ich nicht wagen. Aber er gab mir die Erlaubnis, eine Stimme zu finden, eine Stimme auszumachen; und das bedeutet: ein Selbst auszumachen, ein Selbst, das nicht feststand, sondern ein Selbst, das um seine eigene Existenz kämpfte.“

Zwei Jahre nach Cohens Tod erscheint sein lyrisches Testament

Die Rede beschließt den Gedichtband „The Flame“, der dieser Tage, zwei Jahre nach Cohens Tod, weltweit als sein lyrisches Testament erscheint. Und tatsächlich: Was diesem in jeder Hinsicht durchwachsenen Buch seine betörende Einheit verleiht, ist Cohens poetische Stimme. Eine tröstende Düsternis, die nachklingt, wenn man keine einzige Zeile mehr erinnert. Eine kratzbürstige Spottlust, die sich über die eigene Melancholie mokiert. Und eine geradezu übermenschliche Demut, von der man nur angestupst werden muss, damit sie einen mit ihrer ganzen Wucht erfasst.

Dass sich Cohens poetische Stimme unweigerlich mit seiner physischen verbindet, die von einem nasalen Bariton zuletzt zu einem ergreifend sonoren Bass abgesunken war, mag bloße Suggestion sein. Doch auch sie gehört zu einem Schreiben, das jede Faser seines Körpers beanspruchte und so vom Papier aus in die wirkliche Welt zurückfand, wo es im Murmeln des Dichters am Schreibtisch vielleicht sogar begann.

Leonard Cohen war auch ein begeisterter Zeichner, obwohl er sich nicht für übermäßig begabt hielt. Hier ein Selbstporträt.
Leonard Cohen war auch ein begeisterter Zeichner, obwohl er sich nicht für übermäßig begabt hielt. Hier ein Selbstporträt.
© K & W

Ein erster Teil von „The Flame“ sammelt letzte und vorletzte, teils jahrzehntealte Gedichte neben tagebuchartigen Schnellschüssen. Ein zweiter Teil präsentiert die Songtexte von „Old Ideas“, „Popular Problems“ und „You Want It Darker“ – sowie diejenigen für das Album „Blue Alert“ seiner Lebensgefährtin Anjani Thomas. Der dritte, mit rund 150 Seiten umfangreichste Teil widmet sich Auszügen aus den Notizbüchern.

Darunter sind auch Kuriositäten wie ein Traum von Tom Waits, den Cohen nach einer eigenen Show in der Garderobe sitzend, aus der Ferne singen hört und ihn um einen rauen musikalischen Kitsch beneidet, der ihm nicht gegeben ist. Cohen im Rohzustand steht also neben Durchgearbeitetem, Liegengebliebenem, Unausgegorenem und schlicht Rätselhaftem. Gerade der Blick in die Werkstatt ist aufregend, weil er zeigt, aus welchen Unwuchten sich manchmal Banalitäten zu erhabenen Gedichten rundeten.

Auf jede Wiederholung folgt eine überraschende Findung

Mit dem Gleichmut einer Poesiemaschine befüllt Cohen die immergleichen Formen. Seine Eingebungen schaukeln und schuckeln am liebsten jambisch vor sich hin, gruppieren sich zu Versquartetten oder Doppelquartetten und folgen dem Reimschema ABCB. Wenn man ihrer auf Dauer nicht überdrüssig wird, dann, weil auf jede Wiederholung eine überraschende Findung kommt – und gelegentlich ein epigrammatischer Volltreffer.

Leonard Cohen wusste genau, dass so manche Strophe auch nach dem zehnten Polieren noch nicht glänzen würde. Doch eben dies bildete den Antrieb seines Kritzelns und Weiterschreibens: Das Material braucht Bewegung! In den Notizbüchern stehen nun halbfertige Zeilen, aus denen er sich später für seinen Song „Feels So Good“ bediente: „I don’t know about tomorrow / but I know what's coming next / I was broken when I met you / I was broken when I left / I couldn’t do it living / but I love you with / my dying breath // I came here for the healing / How about you? / The god of love is broken / the god of hatred too // Every time I touched you / My oh My oh My // That night you let me touch you / I thought that I would die“.

Es findet sich auch völlig Ungeschliffenes: „and you put your baby / number nothing / on the waiting list // and long nights alone / with the Angels of the Lord / I put the books of love aside“. Aus beiden Schnipseln lässt sich indes schon fast der ganze Cohen rekonstruieren: Glück, Gewalt und Elend der irdischen Liebe, die Unzuverlässigkeit der überirdischen, die Sehnsucht nach Berührung und Heilung im Jammertal, die Vermengung des Fleischlichen und des Spirituellen – alles gepaart mit den Zumutungen des Alters. In unterschiedlichen Registern bestimmen diese Motive das ganze Buch.

Cohen bewegt sich nicht in Alpinregionen der Dichtung

Mit trügerischer Eingängigkeit illuminiert eine von Strophe zu Strophe unheimlicher werdende „Maria voll der Gnade“-Anrufung das manichäische Gefüge einer Welt, die sich nicht zum Licht erlösen lassen will: „You step out of the shower / Oh so cool and clean / Smelling like a flower / from a field of green / The world is burning Mary / It’s hollow dark and mean“. Und das eröffnende „Happens To The Heart“, ein grandioses Lebensabschiedsgedicht, warnt jeden angehenden Messias vor der Hoffnung, dass seine Erlösungsmacht ein gutes Ende für den Einzelnen bewirken könne. Das alles spielt, und der ebenso selbstbewusste wie bescheidene Cohen schätzte sich da ganz richtig ein, nicht in den Alpinregionen der Dichtung. Aber es sagt komplizierte Dinge mit so überwältigender Einfachheit, wie es nur Wenige vermögen.

Als Cohen 1956, lange bevor er seine Poetenkasse als Sänger und Songwriter aufzubessern begann, mit „Let’s Compare Mythologies“ (auf Deutsch in dem Band „Parasiten des Himmels“) die kanadische Lyrikszene betrat, war manches noch opulenter instrumentiert. Louis Dudek, sein Lehrer und Mentor an der McGill University, hatte ihn mit dem Modernismus von Ezra Pound bekannt gemacht, und die jüdische Kultur seiner Geburtsstadt Montreal, die ihren literarischen Chronisten in Mordecai Richler fand, beerbte er, indem er sich A.M. Klein, dem psalmodierenden Juden aus der Ukraine, anverwandelte – und mehr noch seinem hitzköpfigen Freund Irving Layton, einem rumänischen Juden, der zum bedeutendsten Dichter Kanadas im 20. Jahrhundert wurde.

Doch sonst ist sich Cohen im vergleichenden Spiel von alttestamentarisch-jüdischen und neutestamentarisch-christlichen Elementen, die er nicht erst durch seine Jahre als Zenmönch auf dem Mount Baldy im Los Angeles County buddhistisch erweiterte, treu geblieben. Und auch der schönheitstrunkene, Frauen vergötternde Troubadour, den 1970 ein 27-jähriger Kritiker namens Michael Ondaatje im ersten Buch über Cohens Lyrik benannte, greift, wenn auch reichlich zerzaust, noch immer in die König-Davids-Harfe.

Der Gedichtband erscheint zweisprachig

Nach dem im englischen Original 2006 erschienenen „Buch der Sehnsüchte“ (Book of Longing) ist „The Flame“ erfreulicherweise wieder eine zweisprachige Ausgabe. Eine zwölfköpfige Riege jüngerer deutscher Lyriker von Nora Bossong bis zu Kerstin Preiwuß, von Léonce W. Lupette bis zu Marcus Roloff, ist daran beteiligt. Doch ihr Lektor und Mitübersetzer Christian Lux war schlecht beraten, ihnen allen die Freiheit zu lassen, Cohens Versmusik entweder mitsamt den Reimen nachzubilden oder wortgetreu zu übersetzen. Entstanden ist nichts Halbes und nichts Ganzes, das mitunter schon den einzelnen Text durch Inkonsequenzen zerreißt: eine frühzeitige Kapitulation vor den übersetzerischen Herausforderungen einerseits – und ein Hinausschießen übers Ziel andererseits.

Hier, wo die Protagonisten der vielbeschworenen deutschsprachigen Lyrikblüte ihr Handwerk zeigen könnten, kleben sie oft allzu brav am Ursprungstext oder verkünsteln sich gewaltsam. Wie prägnant heißt es in „Happens To The Heart“ etwa: „I was selling holy trinkets / I was dressing kind of sharp / Had a pussy in the kitchen / And a panther in the yard / In the prison of the gifted / I was friendly with the guard / So I never had to witness / What happens to the heart“. Léonce W. Lupette macht daraus: „Ich verkaufte heiligen Nippes / ich trug Kleidung raffiniert / Hatte ’ne Mieze in der Küche / Einen Mähnenwolf im Revier / Hinter Mauern weil ich dichte / war ich stets zum Wärter lieb / Und hab nie mit ansehen müssen / Was mit dem Herz geschieht“. Alliteration gerettet, Rest tot.

Leonard Cohen: Die Flamme / The Flame. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 352 Seiten, 24,99 €.

Gregor Dotzauer

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