Schauspielerin Hiam Abbass bei der Berlinale: Die Diva des unabhängigen arabischen Kinos
Sie pendelt zwischen Orient und Okzident, spielt starke Frauen, die dem Hass, dem Schmerz und Verlust trotzen. Auf der Berlinale ist sie in gleich zwei Filmen zu sehen. Eine Begegnung.
Sie schaut einen unverwandt an, neugierig, unbestechlich. Hiam Abbass sitzt in der Interviewlounge im dritten Stock des Berlinale-Palasts, wir trinken Wasser, es gibt keine Gläser, also stoßen wir an wie mit Bier. Die Schauspielerin ist gerade aus Paris gekommen, dort lebt sie mit ihrer Familie. Abbass, die in einem arabischen Dorf in Israel aufgewachsene Palästinenserin mit israelischer Staatsbürgerschaft und französischem Pass, die auch in England gelebt hat und in den USA mit Steven Spielberg und Ridley Scott drehte und demnächst im „Blade Runner“-Sequel vor der Kamera steht, spricht vier Sprachen, fließend. In allen vier hat sie auch schon gedreht, auf Arabisch, Hebräisch, Französisch und Englisch; bei Spielbergs „München“-Attentatsfilm wurde sie am Set auch noch zur zeithistorischen Beraterin. Vor allem aber ist Hiam Abbass die Diva des unabhängigen arabischen Kinos. Wenn Diva nicht ein seltsamer Ausdruck wäre für diese zierliche, dunkelhaarige Frau im bordeauxroten Pulli, wie sie mit ihrer tiefen Stimme über das Wesen der Schauspielerei nachdenkt, über Europas Grenzen und den Freiheitsbegriff.
Wo sie sich zu Hause fühlt auf der Welt, will ich von Hiam Abbass wissen, die sich bei der Berlinale 2002 mit „Satin Rouge“ vorstellte, 2004 als „Syrische Braut“ zum Publikumsliebling wurde und 2007 in der Wettbewerbsjury saß. Diesmal ist sie gleich in zwei Filmen zu sehen, in Philippe Van Leeuws Kriegskammerspiel „Insyriated“ und im französisch-tunesischen Migrantendrama „Foreign Body“ von Raja Amari, die schon bei „Satin Rouge“ Regie führte. „Bisher habe ich auf die Heimatfrage immer geantwortet, ich bin den Filmen zu Hause“, meint Abbass. „Heute sage ich etwas anderes: Ich bin in Paris zu Hause, bei meiner Familie. Aber mein Herz gehört Palästina, meinem Dorf.“ Wobei sie niemals einseitig Stellung bezieht; auch den wichtigsten israelischen Darstellerpreis hat sie bereits gewonnen.
Ihre Identität? Komplex. Sie hat nicht nur Palästinenserinnen gespielt wie in „Lemon Tree“ oder „Paradise Now“, sondern auch Frauen aus Marokko, Libanon, Irak. Oder aus Syrien und Tunesien, wie jetzt in den Berlinale-Filmen. „Ich leihe ihnen meine Person, bei Drehschluss verabschiede ich mich wieder .“ „Insyriated“ erzählt vom Dilemma, unter unmenschlichen Bedingungen nicht menschlich bleiben zu können. Die meisten andere Schauspieler sind syrische Flüchtlinge, eine besondere Erfahrung? „Ja und nein, denn im Bürgerkrieg leben ist Teil meines biografischen Gepäcks. Wie ist es, wenn der Terror in die eigenen vier Wände einbricht, wen schützt du, wen opferst du? Es ist tatsächlich ein Dilemma vom Format einer Shakespeare-Tragödie“.
Eine ihrer ersten Rollen spielte Hiam Abbass mit neun Jahren, im Schultheater. Eine Mutter, die ihr Kind verlor. Sie hielt einen Jungen in den Armen, der fast so groß war wie sie, war selber bewegt, und beim Schlussapplaus schnäuzten sich alle. Ein magischer Moment, den sie erst viel später begriff. Inzwischen spielt sie wieder gerne Theater, in Paris, es ist direkter als vor der Kamera, gefährlicher, „dort du bist nackt“. Eine Keimzelle ihrer Karriere: Starke Frauen, die mit dem Tod klarkommen müssen, mit Schmerz und Verlust, hat sie immer wieder gespielt. In politischen Filmen über den Nahostkonflikt, über Selbstmordattentäter, über Frauen, die dem Hass trotzen. „Nicht nur ich habe diese Filme ausgewählt, sie haben auch mich ausgewählt“: Hiam Abbass betont, dass sie Filme nicht nach Themen aussucht. Die Figuren müssen ihr etwas sagen, sie herausfordern, als lebensnahe, widersprüchliche Charaktere. Vereinfachungen interessieren sie nicht.
Und wie autobiografisch ist ihre Figur einer etablierten, in Frankreich lebenden älteren Migrantin, die sich in „Foreign Body“ mit einer illegal eingewanderten jungen Tunesierin anfreundet? Rollen sind nie meine Spiegelbilder, stellt die 56-Jährige klar, auch wenn es ihr vertraut ist, ein Stück der eigenen Identität in eine fremde Kultur hineinzutragen. Und sie singt ein Loblied auf die Regisseurin Raja Amari, die beiden verbindet eine besondere Arbeitsbeziehung. Weil Amari es vermag, brisanten aktuellen Stoffen eine ganz eigene subtile Sinnlichkeit zu verleihen. „Satin Rouge“, 2002, war ihre erste Hauptrolle, ein Karrieresprung, sie war oft hier seitdem. „Die Berlinale und ich, wir verstehen uns blind.“
Die Zeit drängt, wir sprechen kurz über die Stärke der Frauen in arabischen Ländern, über das Aufwachsen in einer männerdominierten Gesellschaft. „Eine Riesenfrage, zu groß für meine schmalen Schultern“, sagt Abbass. Um dann doch die eigene Erfahrung zu skizzieren: „Eine dominierte Frau ist nicht zwangsläufig eine schwache Frau. Dass ich mich auflehnen musste, eben das gab mir Stärke.“ Auch im Arabischen Frühling konnte man das erleben.
In Zeiten von Marine Le Pen sind Migrationsfilme für sie wichtiger denn je
Was können Filme über Migranten in diesen Tagen bewirken? „In Zeiten einer Marine Le Pen sind solche Filme wichtiger denn je. Ich habe in einer Gegend das Licht erblickt, in der man nach diesem Licht gleich als Nächstes die Grenzen erblickte. Seitdem habe ich Antikörper dagegen entwickelt.“ Sie liest gerade Georges Bernanos, der über die innere Freiheit geschrieben hat, über Freiheit nicht als Privileg, sondern als Aufgabe. Abbass betont, dass es Abgrenzung geben muss, aus Selbstschutz und aus Respekt vor dem anderen, aber dass Grenzen nie zu Machtzwecken missbraucht werden dürften. Und wie ist es für sie als Araberin seit den Terroranschlägen in Paris? Sie machen ihr anders zu schaffen, als unsereins denken könnte: Ihre Tochter hat bei einem Anschlag neun Freunde verloren. Abbass denkt an die Opfer, fragt sich aber auch, was junge Menschen derart radikalisiert, dass sie auf das Jenseits fixiert sind: „Ich will das Leben nicht auf später verschieben“.
Als Pendlerin zwischen Orient und Okzident beobachtet sie wechselseitige stereotype Zuschreibungen. In westlichen Augen ist der Orient eine Hochburg des Islam und des IS, „Sie können die Liste gern selbst fortsetzen. Wir hingegen halten den Westen schnell für die überlegene Kultur“. Als junge Frau traf sie eine Entscheidung. „Ich sagte mir: Keiner ist besser als ich, und ich bin nicht besser als alle anderen.“ Das Toleranzedikt der Hiam Abbass. Nur so, fügt sie hinzu, können wir uns alle behaupten auf dem riesigen Markt, der das Leben ist.
"Insyriated" ist am 13., 17. und 19.2 im Panorama zu sehen. "Foreign Body" läuft ab dem 15.2 vier Mal in den Forum-Kinos.