Arabische Filme auf der Berlinale: Der Krieg in mir
Politisch, psychologisch, historisch. Nach ersten Reflexen auf die Flüchtlingskrise erkunden die Berlinale-Filme aus dem arabischen Raum dieses Jahr die Hintergründe vor Ort.
Die Wohnungstür ist doppelt verbarrikadiert, die Vorhänge bleiben geschlossen. Draußen herrscht Krieg, ferne Schüsse, nahe Detonationen, Hubschrauber, Sirenen, gespenstische Stille. Drinnen haust eine Notgemeinschaft, die resolute Mutter mit ihren Kindern, dem alten Schwiegervater, der jungen Nachbarsfamilie. In deren Etage ist es zu gefährlich, wegen der Sniper. Eingesperrt in die eigenen vier Wände: „Insyriated“, Philippe Van Leeuws libanesisch-französisch-belgische Koproduktion mit der großartigen Hiam Abbass in der Hauptrolle, verdichtet den Krieg zum klaustrophobischen Kammerspiel, zur Parabel über all jene, die nicht aus Syrien fliehen konnten. Auch für die Kamera ist es eng in der verwinkelten Wohnung. Es gilt, die nächsten 24 Stunden zu überleben, irgendwie.
Letztes Jahr zeigte die Berlinale etliche Filme über Flüchtlinge aus dem arabischen Raum, über Boat People und Odysseen durch halb Afrika, persönliche Tragödien, auch über Migranten in anderen Weltregionen. Gianfranco Rosis Lampedusa-Dokumentarfilm „Fuocoammare – Seefeuer“ gewann den Goldenen Bären. Nach diesen ersten Reflexen auf die Flüchtlingssituation häufen sich nun die Beiträge, die Hintergründe vor Ort erkunden und Tiefenbohrungen vornehmen, politisch, psychologisch, historisch. Das Panorama zeigt dazu Filme aus Algerien, Marokko, dem Libanon, den palästinensischen Gebieten, das Forum „Foreign Body“ über eine Migrantin aus Tunesien.
Inszenierung von Isolation, Folter, Todesangst
Vor allem Hiam Abbas’ Figur verkörpert einen aus der Verzweiflung resultierenden Pragmatismus, eine schier unmöglich gewordene Menschlichkeit. Wen schützen, wem helfen, wen preisgeben? Draußen auf dem Hof liegt ein Toter, oder ist er nur angeschossen? Irgendwann dringen Assads Männer in die Wohnung, für die Frauen gibt es keinen sicheren Ort. Unmöglich, keinen Verrat zu begehen.
Gewalt deformiert, unweigerlich. Raed Andoni stammt aus Ramallah, mit 18 war er in Moscobiya inhaftiert, dem Verhörzentrum des israelischen Geheimdiensts. In „Ghost Hunting“ („Istiyad Ashbah“) rekonstruiert der Regisseur Jahre später den Ort, vom Grundriss bis zum Schließmechanismus der Zellen. Gemeinsam mit anderen ehemaligen palästinensischen Gefangenen inszeniert er Isolation, Misshandlungen, Psycho-Folter, Todesangst. Sie stellen sich den Geistern ihrer Vergangenheit.
Ein Re-enactment, ein Experiment: Andoni huldigt keineswegs dem eigenen Opferstatus, er bringt die von den traumatischen Erlebnissen beförderte Aggression ans Licht. Machtkämpfe werden am Set ausgetragen, immer wieder schlägt die inszenierte Gewalt in reale Quälerei um, bei aller Solidarität unter Leidensgenossen. Wir sind doch nur Bauern in deinem Schachspiel, sagt der Regieassistent zu Raed, du bist der Kontrollfreak. Und sie stecken den Regisseur unter die Kapuze, bringen ihn zum Verhör.
In „Ghost Hunting“ ahnt man, welchen Kraftakt es bedeutet, sich im Gefängnis nicht radikalisieren zu lassen, hinterher nicht in die Intifada zu ziehen oder den Dschihad. In Raja Amaris französischem Forums-Film „Foreign Body“ strandet Samia, die Schwester eines tunesischen Dschihadisten in Lyon, eine Illegale. Eine doppelte Heimsuchung: Albträume von der Mittelmeerflucht rhythmisieren ihren Alltag, sie jobbt als Hausmädchen bei einer bourgeoisen Witwe, die auch aus Tunesien stammt (wieder Hiam Abbass), die Frauen nähern sich an, eine Wahlverwandtschaft, in der die Wunden gleichwohl nicht verheilen.
Arabische Traumata nehmen Gestalt an
Wie kommt es, dass Menschen sich einer Ideologie verschreiben, dem religiösen Wahn erliegen, der Repression? „Headbang Lullaby“ aus Marokko und „Investigating Paradise“ aus Algerien nähern sich der Frage auf unterschiedliche Weise. Der marokkanische Filmemacher Hicham Lasri veranstaltet eine surreale Geisterstunde, in der die Tradition der Obrigkeitshörigkeit aufersteht; der Algerier Merzak Allouache folgt in seinem semidokumentarischen Film der jungen Journalistin Nedjma. Sie will es genau wissen: Warum glauben Muslime an die Sache mit den 72 Jungfrauen?
Der 1986 in der Provinz angesiedelte psychedelische Trip „Headbang Lullaby“ ist arg aus der Form geraten: Ein Regierungsbeamter bewacht eine Autobahnbrücke zwischen zwei verfeindeten Dörfern, König Hassan II. soll hier vorbeifahren. Die Dorfbewohner überbieten einander an Unterwürfigkeit, arabische Traumata nehmen Gestalt an, die Brotunruhen Anfang der Achtziger, Regime-Willkür, Machismo, tabuisierte Sexualität. Willkommen in Absurdistan: Klar im Kopf ist hier keiner. Leider begreift der Zuschauer am Ende auch nicht mehr als die Tatsache, dass Unterdrückung autoritäre Charaktere gebiert.
„Investigating Paradise“ geht präziser vor. Nedjma (Salima Abada) interviewt Männer auf der Straße, befragt Künstler, Schriftsteller, Aktivisten, Psychologen, sunnitische Gelehrte, versucht, mit verschleierten Pilgerinnen ins Gespräch zu kommen. Nahaufnahmen einer Männergesellschaft: Ihren Interviewpartnern spielt Nedjma ein Video vor, auf dem der Imam Chemseddinne, populär wie ein Rockstar, ein hocherotisches Paradies schildert. Die Gläubigen schwärmen von weicher Jungfrauenhaut, ewiger Jugend, verführerischen Astralkörpern – auch eine Art Absurdistan. Die Kritiker nennen es Porno-Islamismus und erläutern, wie die sexuelle Frustration in der lebensfrohen mediterranen Region für politische Hörigkeit und religiöse Radikalisierung missbraucht wird.
Muslime zwischen Krieg, Infiltration und Gottesfurcht, von Syrien bis Algerien: Der Schriftsteller Boualem Sansal klagt eine bitter nötige Reform des Islam ein. „Investigating Paradise“ macht die Probe aufs Exempel, wenn er dem Terror im Namen Allahs auch mit Humor begegnet. Auf Erden haben die Männer schon mit einer einzigen Frau Probleme, so die Schauspielerin Biyouna. Wie wollen sie bloß mit 72 klarkommen?