Im Kino: "Die feine Gesellschaft": Die Dingshaftigkeit der Welt
Luzider Irrsinn: In Bruno Dumonts Kostümfilm „Die feine Gesellschaft“ mit Juliette Binoche und Fabrice Luchini endet der Landadel in den Töpfen des Volkes.
Zwei Häuser von sehr ungleicher Würdigkeit sind im Norden Frankreichs, wo Bruno Dumonts „Die feine Gesellschaft“ spielt, zu Groll und Kampf bereit. Hier weckt Bürgerblut den Hunger. So könnte man sagen, zumal wie einst bei Romeo und Julia eine unwahrscheinliche Liebe die Dinge zwischen den Häusern in Bewegung setzt. Die van Peteghems residieren in einem zementenen Schlossbau ziemlich weit oben, der Blick geht aufs Meer. Die Bruforts leben in einem Häuschen drunten, der Blick geht aufs Land. Sie reden wenig, grunzen oft nur, während die van Peteghems einander zwar auch nichts zu sagen haben, das aber gern in affektiertester Weise. Besonders Aude van Peteghem (Juliette Binoche) ist eine wahre Koloraturrednerin und Gesichtsausdrucksakrobatin, der alles immer entgleist.
Was die Mitglieder dieser feinen Gesellschaft ansonsten verbindet: Inzucht, alberne Bewegungsmotorik und Debilität. Da ist André (Fabrice Luchini), bucklig, eiernd schlenkriger, die Arme schleudernder Gang, er redet viel und ist dabei immer – und immer vergeblich – auf der Jagd nach einem Sinn in dem, was er sagt. Darum sagt er es gerne doppelt und dreifach. Neben ihm seine Gattin Isabelle (Valeria Bruni Tedeschi) mit Leichenbittermiene, dazwischen zwei Töchter, die der Welt begegnen, als gehörten sie nicht hinein.
Bruforts verspeisen bei Gelegenheit den einen oder anderen Touristen
Bei den Bruforts dagegen bedarf es nicht vieler Worte. Meist reicht schon ein Schlag auf den Kopf. Vater und Sohn verdienen ihr Geld mit einem Fährdienst. Wobei der Kahn meist unbenutzt bleibt. Der alte Brufort, im Ort ehrfurchstvoll „Der Ewige“ genannt, oder der Junior Ma Loute tragen die Van Peteghems oder Touristen aus Lille und Roubaix auf den Armen über das Wasser. Trotz Wortkargheit und Gegrunze wäre alles in Ordnung, hätten die Bruforts nicht die Angewohnheit, den einen oder anderen Touristen bei Gelegenheit zu verspeisen.
Dass Menschen an diesem entlegenen Ort spurlos verschwinden, entgeht nicht einmal der Polizei, obwohl die auch nicht so helle ist. Sie wird repräsentiert von zwei Männern mit Bowler: Der eine, Malfoy, ist klein, rotblond, und sieht besonders einfältig aus, wenn er nachdenkt – beziehungsweise so tut. Sein Chef ist kugelrund, rollt öfter, als dass er geht, fällt um, kommt ohne Hilfe nicht mehr hoch, quietscht, wenn er die Arme bewegt, bläst sich auf, fliegt am Ende davon. Er heißt Machin, aber ein richtiger Name ist das nicht, „machin“ bedeutet einfach „Dings“. Von enormer Dingshaftigkeit ist ohnehin so ziemlich alles in dieser seltsamen Welt. Dings sind die Namen, Dings ist die Landschaft, Dings sind die Menschen. Und Dings ist es, wenn André am Strand vom Segelgefährt mitten in ein herumstehendes Schiffswrack katapultiert wird.
Das mit der Liebe geht anders aus, als man denkt
Nicht so Dings, sondern in ihrer Abruptheit sehr schön, ist die Liebe, die romeo-und-julia-haft hinfällt, wo sie nicht hinfallen soll. Ma Loute (Brandon Lavieville) trägt Billie van Peteghem (Raph) über das Wasser und verfällt ihr. Oder ihm. Die Van Peteghems bestehen darauf, Billie sei ihr einziger Sohn. Genaues weiß man aber nicht. Mal kleidet er sich als Junge, dann wieder als Mädchen. Billie steht nicht nur zwischen den Familien, sondern zwischen den Körpern und den Geschlechtern. Er oder sie ist von hinreißender Androgynität. Trägt eine brave Mädchenperücke, darunter ist der Kopf kühn rasiert. Allerdings geht das mit der Liebe anders aus, als man denkt. Nicht wie bei Romeo und Julia, also tragisch, auch nicht wie in der Komödie, die der Film fraglos ist, und nicht wie im Märchen, von dem „Die feine Gesellschaft“ in seiner ganzen himmelschreienden Düsternis einiges hat.
Der Blick des französischen Autorenfilmers Bruno Dumont auf die Welt war noch nie heiter. Bisher fühlten sich seine Filme schwer, wuchtig und finster an. Dann drehte er vor zwei Jahren die umwerfende Mini-Serie „Kindkind“, eine verwegene Krimi-Geschichte mit Leichenteilen in einer toten Kuh und so weiter. Sie spielt in der Provinz, ist aber von aller ländlichen Idyllik Welten entfernt. Dennoch hat er dabei offenkundig entdeckt, wie komisch es sein kann, seine zuvor mit äußerster Ernsthaftigkeit gezeichneten Szenarien und Figuren um ein paar Grade ins vollends Groteske zu überdrehen.
Wild kostümierte Starkörper
Dumont hat schon seine früheren Filme gerne mit Laien besetzt. Menschen mit eigentümlichen Körpern, auf die in seinen Filmen kein liebender, aber auch kein denunzierender Blick fällt: krumm gewachsen, knorrig, Ausgeburten einer ihnen feindlich gesonnenen Welt. Auch in „Die feine Gesellschaft“ finden sich – in der Familie Brufort – diese Körper außerhalb jeder Norm. Anders als in „Kindkind“ werden sie diesmal mit Starkörpern konfrontiert, die allerdings ins noch Groteskere überdreht sind. Dazwischen irrlichtern die Polizistenkörper als vollendete Abnormität – und natürlich Billie, deren/dessen Körper als Einziger verführerisch schön zwischen den Geschlechtern changiert und am Ende von allen Festschreibungen unberührt bleibt.
Die Starkörper sind in jeder Hinsicht wild kostümiert. Sie werden in historische Kostüme gesteckt und mit Manierismen geschmückt, die sich als Pathologien verselbstständigen. Am ehesten erinnert das an den luziden Irrsinn, den Herbert Fritsch in seinen körpermanieristischen Theaterinszenierungen vorführt: „der die mann“ in der Version von Bruno Dumont. Wille, Sinn, Intention gehen den Beteiligten dabei flöten. Übrig bleiben Körper-, Beziehungs- und Wortmaterialradikale, die von allen Sinnzumutungen auf dann doch heiterste Weise befreit sind. Oder zwischendurch einfach das Fliegen lernen. Man kann diese Entgrenzung durchaus genießen. Sie wirkt mitunter auch reichlich verstörend.
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Ekkehard Knörer
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