Rotterdamer Orchester beim Musikfest: Die Betörung
Das Rotterdamer Orchester feiert beim Berliner Musikfest sein 100-jähriges Bestehen - und den Abschied von Yannick Nézet-Séguin.
Beim ersten Gastspiel des Berliner Musikfests bleiben überraschend viele Plätze leer in der Philharmonie. Dabei ist das Rotterdam Philharmonic Orchestra neben dem Concertgebouw Orchestra das Beste, was die Niederlande zu bieten haben. Spannend ist zudem die Möglichkeit zum Vergleich: Das Concertgebouw macht am heutigen Dienstag Station beim Musikfest und spielt als Hauptwerk ebenfalls eine Bruckner-Symphonie – ohne seinen Chefdirigenten Daniele Gatti, von dem sich das Orchester nach MeToo-Vorwürfen getrennt hat.
Die Rotterdamer dagegen haben allen Grund zum Jubilieren. Das Orchester feiert sein 100-jähriges Bestehen mit einer Tournee, die zugleich dankbarer Abschied ist von Yannick Nézet-Séguin. Der kanadische Dirigent hatte 2008 den Stab übernommen und zieht nun weiter, weil er an der New Yorker Met bereits sehnsüchtig als Nachfolger von James Levine erwartet wird. Dass er auch dort reüssieren wird, steht außer Frage. Kein Dirigent vermag derzeit so geschmeidig physische Energie in ein Orchester zu pumpen wie der 43-Jährige.
Alles pulst und wächst
Nézet-Séguin ist aber nicht nur ein Oberflächenveredler, er hat mit den von Valery Gergiev übernommenen Musikerinnen und Musikern zu einem betörenden Klangideal gefunden. Bruchlos warm und tragfähig in allen Registern, flexibel und artikuliert – aus dieser Verbindung wird vieles bleiben.
Auf Wunsch des Musikfests haben die Rotterdamer ein Werk von Bernd Alois Zimmermann mit auf Tournee genommen, der mit dem Orchester das Geburtsjahr teilt. In seiner „Sinfonie in einem Satz“ von 1951 spiegelt sich die Nachkriegszeit. „Ungeborgenheit, Unsicherheit, Angst: Symptome, die nicht zu übersehen waren, all das drängte zur Darstellung, zur Aussage“, beschrieb der Komponist seine Stimmung. Der 20-Minüter besticht durch unmittelbare Fasslichkeit, drängenden Puls und katastrophische Kulminationen, auf die berührende Klangvereinzelungen folgen. Nézet-Séguin dirigiert ihn mit Verve und Operngespür und macht diese Musik dabei etwas robuster, als sie eigentlich ist. Bruckners Vierte hingegen sonnt sich in der Mühelosigkeit, mit der dieses Orchester Kräfte entfaltet. Nézet-Séguin zelebriert keine Generalpausen, alles pulst und wächst. Doch sein Tanz mit Bruckner findet im Finale ein jähes Ende, weil es noch einmal vertrackt wird – und man neben der Schönheit auch die Schwierigkeiten lieben lernen muss.