Musikfest Berlin: Glaube, Lüge, Hoffnung
Das „Musikfest Berlin“ begibt sich diesmal ins Spannungsfeld von Riten und Religionen.
Winrich Hopp ist kein Mann für markige Motti. Der künstlerische Leiter des „Musikfest Berlin“ will das Publikum nicht durch Werbesprüche anlocken, sondern durch Inhalte überzeugen. Viele Gedankenstränge zu einem fein verwobenen Netz zu fügen, ist Hopps Passion. Damit ist er seit 2006 beim Musikfest erfolgreich. Und doch drängt sich beim Durchblättern der Vorschau zum diesjährigen Programm, das vom 31. August bis 18. September 65 Werke von 25 Komponisten aufbietet, als thematische Klammer des Ganzen ein Goethe-Zitat auf: „Nun sag, wie hast Du’s mit der Religion?“, die Gretchenfrage aus dem „Faust“.
Reine Kirchenmusik ist beim Musikfest allerdings nur durch Antonín Dvobáks Requiem vertreten, das Philippe Herreweghe am 11. September mit dem Konzerthausorchester aufführt. Zum katholischen Kontext gehören Wagners „Parsifal“ (das DSO spielt am 16.9. eine Suite aus der Oper) sowie natürlich die Sinfonien Bruckners (seine Neunte, die er „dem lieben Gott“ widmete, erklingt am 7.9. mit den Münchner Philharmonikern unter Valery Gergiev).
Winrich Hopps Konzeption geht 2018 weit über die Verflechtung von Christentum und zentraleuropäischer Kunstmusik hinaus, ihm geht es weniger um geistliche, als vielmehr um durchgeistigte Werke. Und nicht das Dogma, sondern der Ritus steht dabei im Vordergrund. Im Programm spürt er den Einflüssen nach, die die unterschiedlichsten Glaubensrichtungen auf die Komponisten des 20. Jahrhunderts ausgeübt haben.
Grausame heidnische Bräuche beispielsweise beschreibt Igor Strawinsky in seinem „Frühlingsopfer“, dem „Sacre du printemps“ von 1913. Daniel Barenboim kombiniert das Schlüsselwerk der Moderne beim Eröffnungskonzert mit Pierre Boulez’ „Rituel in memoriam Bruno Maderna“. Eine „Zeremonie des Gedenkens“ an den 1973 verstorbenen italienischen Komponistenkollegen ist hier zu erleben, bei der die Musiker eines in acht Gruppen unterteilten Orchesters mal getrennt, mal vereint eine feierliche Melodie intonieren. Nach Boulez’ Willen sollen sie dabei so weit wie möglich voneinander entfernt im Konzertsaal agieren. Was in der Philharmonie mit ihrer mittigen Bühne äußerst schwer zu realisieren ist. Winrich Hopp hat allerdings noch zu Boulez’ Lebzeiten dessen Placet für eine auf den Ort zugeschnittene Raumanordnung erhalten, die nun auch die Staatskapelle und Barenboim am 1. September respektieren werden.
Die Philharmonie weitet sich zum sphärischen Gedankenraum
Boulez’ 1996 konzipiertes Werk „Sur incises“, das Barenboim dann am 9. September im Boulez Saal dirigiert, hat ebenfalls etwas Rituelles – allein schon optisch, durch die Besetzung mit drei Konzertflügeln, drei Harfen sowie drei vielseitig geforderten Perkussionisten.
Kontemplation, Einkehr, Andacht, all das prägt nicht allein die Geisteshaltung des Betenden, auch der Konzertbesucher – ob gläubig oder nicht – kann diese Form der Fokussierung bewusst und beglückend bei den Live-Abenden erleben. Vielleicht am 8. und 9. September, wenn George Benjamin, in dieser Saison composer in residence der Berliner Philharmoniker, mit seinen Gastgebern neben einem eigenen Werk auch zwei Stücke aus den 70er Jahren aufführt, die er als „Himmelslandschaften“ beschreibt, „Zen-artig“ in ihrer klanglichen Wirkung auf den Hörer. Es sind Boulez’ „Cummings ist der Dichter“ sowie Ligetis „Clocks and Clouds“.
Bernd Alois Zimmermann - eine Mischung aus Mönch und Dionysos
In erdferne Regionen entführt auch das zweite Philharmoniker-Programm beim Musikfest. Der Dirigent François-Xavier Roth hat dafür Debussys dreiteilige Tondichtung „Images“ ausgewählt, die der Komponist selbst als „immaterielle Musik“ beschrieben hat. Um diese Wirkung noch zu steigern, wird Roth zwischen die Debussy-Sätze „Lontano“ sowie „Atmosphères“ von György Ligeti einfügen. So weitet sich die Philharmonie zum sphärischen Gedankenraum.
Weit über das rein Religiöse hinaus weist auch das Werk Bernd Alois Zimmermanns, der sich selber als „eine Mischung aus Mönch und Dionysos“ bezeichnet hat. Seine letzte vollendete Partitur, eine „ekklesiastische Aktion“ mit dem Titel „Ich wandte mich um und sah alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“ bildet beim Auftritt von Valery Gergiev den Gegenpart zu Bruckners Neunter. Alttestamentarisches kombiniert Zimmermann mit einer Passage aus Dostojewskis „Brüdern Karamasow“, in der Jesus auf die Erde zurückkehrt und vom Großinquisitor in den Kerker geworfen wird. Zu den Solisten des Abends wird Sepp Bierbichler gehören.
Alternative Themeninseln für Atheisten
Den Abschluss des Musikfests bildet am 18. September dann Stockhausens „Inori“, eine abendfüllende „Anbetung“ für Orchester und zwei Tänzer, deren Choreografie sich aus 13 global gültigen Gebetsgesten zusammensetzt. „Schützen Sie mein Werk in dieser atheistischen Stadt“ hat der Komponist in einem Brief an Winrich Hopp geschrieben, kurz vor seinem Tod 2007. Und in der Tat ist es ja gewagt, gerade in Berlin so einen vergeistigten Schwerpunkt zu setzen.
Doch Hopp verwendet übers Jahr, bei der Planung des Festivals, seine ganze Energie darauf, die Künstler zu ermutigen, in Berlin Außergewöhnliches zu wagen. Was besonders bei Orchestern, die auf Tournee sind, ein hartes Stück Arbeit sein kann. Denn wer im Ausland gastiert, will sich von seiner Schokoladenseite zeigen. Um so beachtlicher, was die Gäste aus Rotterdam (mit dem Shootingstar Yannick Nézét-Séguin am 2. 9.), Amsterdam (mit Manfred Honeck am 4. 9.), Paris (Ensemble Intercontemporain am 10. 9.) und München in Berlin präsentieren. Allein die Bostoner (mit Andris Nelsons am 6. 9.) mochten nicht von Mahlers monumentaler Dritter ablassen.
Wer sich mit dem rituell-religiösen Schwerpunkt nicht anfreunden mag, dem bietet Winrich Hopp zur Orientierung im Programm alternative Themeninseln an: beispielsweise das Jahr 1918. Das Ende des Ersten Weltkriegs löste in allen Kunstgattungen einen geradezu explosiven Neuanfang aus. Dafür steht beim Musikfest der in diesem Jahr entstandene Stummfilm „J'accuse“ von Abel Gance, den das Rundfunk-Sinfonieorchester am 14. 9. live begleiten wird. Dafür steht aber auch eine neue Komponistengeneration mit Protagonisten wie Anton Webern und Igor Strawinsky, die nach Debussys Tod 1918 vom Franzosen den Staffelstab der Innovation übernahmen. Um ihn dann später an jene drei Männer weiterzugeben, die mit je vier Abenden weitere Kraftzentren des Festivals bilden: Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Bernd Alois Zimmermann.
Musik im Dienste der Wahrheit
Doch ganz gleich, wofür sich die Neugierigen unter den Berliner Konzertgängern letztlich entscheiden, am Ende der Musikfest-Abende stimmen sie hoffentlich dem zu, was Wolfgang Rihm über Stockhausens „Mantra für zwei Klaviere uind Ringmoulation“ gesagt hat (das am 17.9. Pierre-Laurent Aimard, Tamara Stefanovich und Marco Stroppa aufführen): „Uns wird zunehmend bewusst: Es geht in dieser wachen Musik um Wahrheit. So gut es in Musik darum gehen kann.“
Weitere Informationen zum Programm unter www.berlinerfestspiele.de