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Die Leinwand auf dem Platz Djemaa El Fna bringt das Festival zu den Menschen.
© Sife Elamine / Festival

Filmfestival in Marrakesch: Die Beschwörer der Leinwand

Nähe zur Bevölkerung: Das internationale Filmfestival von Marrakesch entdeckt unter deutscher Leitung das afrikanische Kino neu.

Das Herz Marrakeschs schlägt am Djemâa El Fna, dem Marktplatz der „roten Stadt“ und Tor in die historische Medina. Das Bild darf man wörtlich verstehen: Percussiongruppen trommeln von morgens bis abends zwischen Verkaufsständen, Schlangenbeschwörern und Touristen, sie geben dem chaotischen Treiben an der Schnittstelle zwischen der neuen und der alten Stadt einen fiebrigen Rhythmus. Auf den ersten Blick erfüllt der Platz alle Klischees vom mythischen Marrakesch.

Im Hintergrund überragt der Turm der Koutoubia-Moschee, erbaut im 12. Jahrhundert, die flachen Gebäude der Medina. In den Abendstunden taucht der rötliche Lehm der Häuser, dem Marrakesch seinen Spitznamen verdankt, die Altstadt in ein warmes Licht. Doch wer sich abseits des Djemâa El Fna bewegt, wo sich Händler, flanierende und motorisierte Einheimische und Touristen durch die labyrinthartigen Gassen drängeln, erkennt, dass dieser Ort sehr real ist: Hier treffen die letzten europäischen Spuren auf die jahrhundertealten Einflüsse des arabisch geprägten Maghreb und der Subsahara.

Am Djemâa El Fna schlägt auch das Herz des Internationalen Filmfestivals von Marrakesch. In den Abendstunden versammeln sich hier Tausende von Menschen vor einer Großleinwand, mit der europäischen Vorstellung eines gepflegten Kinobesuchs haben diese Vorführungen allerdings wenig gemein. Das Publikum steht, Bestuhlung gibt es nicht. Im hinteren Teil des Platzes trommeln Musiker, aus einer Boombox dröhnt afrikanischer Hip-Hop. In einer anderen Ecke sammelt sich eine Menschentraube um einen Akrobaten. So funktioniert Kino in Marokko: Das Leben geht einfach weiter. Dem Akrobaten wird dieselbe Aufmerksamkeit zuteil wie dem Ehrengast Robert de Niro, der seinen Gangsterfilm „The Untouchables“ präsentiert.

„Weltpremieren interessieren uns nicht“

Das Freilichtkino auf dem Djemâa El Fna ist seit der Gründung des Marrakesch Filmfestivals vor 17 Jahren eine Institution. „Hier kommt das Festival zu den Menschen“, sagt Christoph Terhechte, der neue künstlerische Leiter. Diese Nähe zur Bevölkerung hat das Festival unter der Schirmherrschaft von König Mohamed VI. und Prinz Moulay Rachid, zwei erklärten Kinofans, zuletzt vermissen lassen. Es war einer von vielen Gründen, warum der König im vergangenen Jahr eine Pause verordnete, um die Ausrichtung zu überdenken. Zum Neustart holte man sich Expertise von außen. Terhechte leitete von 2001 bis 2018 das Forum der Berlinale, das unter ihm schon einen stärkeren Fokus auf das afrikanische und arabische Kino legte. In sein Auswahlkomitee holte er sich unter anderem die Kuratorin Rasha Salti und Rémi Bonhomme, der die „Woche der Kritik“ in Cannes mitverantwortet und sich schon lange für die Förderung von arabischen Filmemacherinnen und Filmemachern einsetzt.

Christoph Terhechte, neuer Leiter des Filmfestivals von Marrakesch.
Christoph Terhechte, neuer Leiter des Filmfestivals von Marrakesch.
© Soeren Stache/dpa

Viel Zeit hatten Terhechte und sein Team nicht. Als er im Mai den ersten Film in Cannes akquirierte, war sein Vertrag noch nicht unterzeichnet. „Eigentlich kaum zu glauben, das wir das in so kurzer Zeit geschafft haben“, meint Terhechte am Morgen nach der Eröffnungsgala mit Julian Schnabels Van-Gogh-Film „At Eternity’s Gate“. „Weltpremieren interessieren uns nicht. Uns war es wichtiger, die richtige Balance zwischen internationalen Filmen und Filmen aus der Region zu finden“, sagt der Festivalchef. „Du brauchst einen Robert de Niro oder einen Guillermo del Toro, um das Publikum neugierig zu machen. Aber das Programm in Marrakesch steht für Arthousekino, mit einem regionalen Bezug.“ Das war schon immer so. Doch die langjährige Direktorin Mélita Toscan du Plantier beobachtete auch eine wachsende Entfremdung.

Das Festival soll sich wieder dem Publikum öffnen

Die Vorbehalte der Menschen sind nachvollziehbar. Das Festival findet in einer aus dem Boden gestampften Trabantenstadt aus Hotelburgen statt, gelegen zwischen dem in den zwanziger Jahren gewachsenen Vergnügungsviertel Gueliz und der historischen Medina. Zwar ist der Eintritt frei, aber psychologisch kostet der Kinobesuch Überwindung. Die Hotels und das Festivalzentrum Palais des Congrès bieten internationalen Besuchern alle Annehmlichkeiten, die Einheimischen lädt das Areal nicht unbedingt zum Verweilen ein. Auch darum ist das Freiluftkino auf dem Djemâa El Fna so wichtig. Hier läuft der Marvel-Film „Ant-Man and the Wasp“ genauso wie „Korsa“ und „Lahnech“, die diesjährigen Hits an den marokkanischen Kinokassen.

Das Festival soll sich wieder dem Publikum öffnen, so will es der König. Die offizielle Sprachregelung lautet in diesem Jahr daher: Arabisch, Englisch, dann erst Französisch. Der Relaunch bedeutet auch einen Bruch mit der Ära des französischen Produzenten Bruno Barde, der das Festival in Marrakesch zuletzt eher nach Gutsherrenart geleitet haben muss – so kann man es in Gesprächen zumindest zwischen den Zeilen heraushören.

Das Filmland Marokko ist im Kommen

Die Leinwand auf dem Platz Djemaa El Fna bringt das Festival zu den Menschen.
Die Leinwand auf dem Platz Djemaa El Fna bringt das Festival zu den Menschen.
© Sife Elamine / Festival

Neu ist unter Terhechte zum Beispiel ein Programm mit sieben lokalen Produktionen, das die wundervolle Bandbreite des gegenwärtigen marokkanischen Kinos zeigt. Darunter „Sofia“ von Meryem Benm’barek um ein junges Mädchen, das seine Familie durch eine uneheliche Schwangerschaft in Konflikt mit dem Gesetz bringt, das düstere Gesellschaftsdrama „Jahilya“ des Guerilla-Filmemachers Hicham Lasri und die in lyrisch-assoziativen Bildern erzählte Migrationsgeschichte „Stateless“ von Narjiss Nejja.

Das Filmland Marokko ist im Kommen, meint auch Lamia Chraibi, die Produzentin von „Jahilya“ und „Stateless“. Nach einer gut zehnjährigen Phase, in der arabische Filme auf Festivals Furore machten, erlebt das afrikanische Kino gerade eine Renaissance. „Sofia“, „Yomeddine“ und der kenianische Coming-out-Film „Rafiki“ hatten in diesem Jahr Premieren in Cannes, die sudanesische Komödie „Akasha“ über die Beziehung eines desertierten Soldaten zu seiner AK-47 lief in Venedig und die nigerianische Familienkomödie „Lionheart“ begeisterte Toronto – sodass Netflix sofort zuschlug. „Lionheart" ist die erste Netflix-Akquise eines afrikanischen Films, mit dem der Streamingdienst nun auch offiziell sein Engagement auf dem Kontinent erklärt. In Marrakesch wird die Regiedebütantin und Hauptdarstellerin Genevieve Nnaji gefeiert. Die marokkanischen Filmfans machen keinen Unterschied zwischen Ägypten, Tunesien und Nigeria, sie lieben alle Stars des afrikanischen Kinos.

Plädoyer für eine stärkere Vernetzung der Region

Chaimi hofft, dass der Relaunch des Marrakesch Festivals auch der marokkanischen Filmindustrie auf die Sprünge hilft, die seit den Achtzigern in einer Krise steckt. Zur Hochzeit wurden hier 150 Filme produziert, im vergangenen Jahr waren es 39. Auch weil es im Land kaum noch Kinos gibt – in Marrakesch, außer einem Multiplex, nur vier. In dem ältesten, dem in den fünfziger Jahren erbauten Cinéma Colisée in Gueliz, finden die Wiederholungen und das ebenfalls von Terhechte eingeführte Kinderprogramm statt.

Gerade herrscht jedoch Nervosität unter den Filmschaffenden, seit das Ministerium für Kultur angekündigt hat, die Förderung von 75 Millionen Dirham (7,5 Millionen Euro) zu kürzen. Verständlich, dass Chraibi darum in Netflix eine Chance für das afrikanische Kino sieht. Bislang muss sie vor allem europäische Festivals bereisen, um Geldgeber zu finden. In dieser Abhängigkeit erkennt auch Rémi Bonhomme die größten Defizite für die Filmproduktion in afrikanischen Ländern. Er plädiert für eine stärkere regionale Vernetzung von Marokko über Tunesien und Libanon bis nach Katar.

Viele Regisseurinnen, ganz ohne Quotendiskussion

Um Kooperationen zu fördern, hat Bonhomme mit der Unterstützung von Netflix und der international renommierten Marrakech School of Visual Arts dieses Jahr in einem idyllischen Country Club vor den Toren der Stadt den „Atlas Workshop“ organisiert. In dieser Oase der Ruhe treffen sich, umweht vom Duft der Orangenbäume und dem trockenen Wüstenwind, die Schwergewichte der Filmbranche, um gemeinsam Projekte zu entwickeln und sich über eine intensivere Zusammenarbeit auszutauschen. „In Europa ist eine Krise des Kinos zu beobachten“, meint Bonhomme. „In vielen afrikanischen Ländern steht man noch am Anfang einer Entwicklung. Darum sind die Produzenten hier kreativer bei der Finanzierung ihrer Filme.“

Über die Strategie von Netflix hält sich Funa Maduka, beim Streamingproduzenten verantwortlich für den internationalen Markt, noch bedeckt. Die gebürtige Nigerianerin ist ein zentrales Gesprächsthema auf dem Festival, macht sich aber rar. Im Gegensatz zu den vielen Regisseurinnen, die Marrakesch in diesem Jahr ihren Stempel aufdrücken – ganz ohne Quotendiskussionen. Lamia Chraibi hofft, dass das Festival den eingeschlagenen Kurs fortsetzt. „Einige der besten Produzenten in Marokko sind Frauen“, stellt sie klar. „Es wäre schön, wenn das Marrakesch Filmfestival diese Präsenz in Zukunft abbildet.“ Diese Euphorie war in vielen Gesprächen mit Produzenten, Kuratoren und Filmemacherinnen zu spüren. Das 17. Jahr fühlt sich tatsächlich wie ein Neuanfang an in Marrakesch.

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