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Die Siedlung Schillerpark in Berlin-Wedding, 1924-1930 nach Plänen von Bruno Taut gebaut. 
© Jürgen Ritter/imago

Distanz statt Dichte: Die Anfälligkeit einer dicht gebauten Stadt

Erbe der hygienischen Moderne: Spätestens mit der Coronia-Pandemie lernen wir, dass eine aufgelockerte und durchgrünte Stadt unverzichtbar für das Wohlbefinden ist. 

Cafés und Läden sind geschlossen. Währenddessen sind die Parks überfüllt. In den Zeiten von Corona wird gejoggt, gelaufen und spaziert, als würde Berlin den neuen Fitness-Star suchen. 

Homeoffice und Kontaktreduzierung fordern einen Ausgleich in der Natur. So voll ist es in den Grünanlagen, dass die geforderte „soziale Distanz“ dort kaum zu wahren ist, die ohnehin vor allem eine räumliche Distanz aus sozialer Fürsorge vor der Ansteckung meint. 

Sonnenschein hin, Frühling her, die Ausgangsbeschränkungen lassen den Berliner Hunger nach Bewegung in frischer Luft unersättlich erscheinen. Was für ein Glück, dass die Stadt auch jenseits des Grunewalds über ein reiches Reservoir an Grünflächen verfügt. Viele von ihnen haben ihren Ursprung in der Volksparkbewegung der Zeit um 1900.

Damals entstanden sie als Fluchtpunkte für die Bewohner der engen Mietskasernen und Elendsquartiere in der verrotteten Altstadt. Neben Entspannung und Bewegung boten sie den Familien Licht und Luft, an denen es in den dichten Wohnquartieren mangelte. Die schmuddelig-feuchten Mietskasernen waren ein idealer Nährboden für Krankheiten wie die tödliche Tuberkulose. 

Landflucht und Bevölkerungswachstum als Folgen der Industrialisierung hatten im späten 19. Jahrhundert zu explosionsartig wachsenden Städten geführt. Auch in Berlin. 

Die Folge war eine dramatische Wohnungsnot, die mit fürchterlichen hygienischen Missständen einherging. Auf engstem Raum waren vielköpfige Familien in feuchten, unzureichend geheizten Wohnungen zusammengepfercht. 

Eine „Arbeiter-Sanitätskommission“ untersuchte 1893 die hygienischen Verhältnisse in Berliner Wohnungen und Krankenhäusern. Mit erschreckenden Ergebnissen, selbst in der renommierten Berliner Charité. Hier setzte die Architektur der Moderne an, mit den ersten Reformbestrebungen der Zeit um 1900 und dem Neuen Bauen in den 1920er Jahren

Die Moderne hechelte dabei keineswegs einem formalen Fetisch aus rechtem Winkel und flachem Dach hinterher. Ihre Ziele waren es vielmehr, für den Großteil der Bevölkerung bessere Wohn- und Lebensbedingungen zu schaffen. Dabei ging es nicht um Luxus, sondern um hygienische Wohnwelten, bis hin zur Selbstversorgung der Bewohner in den angrenzenden Gärten. 

Innerhalb weniger Jahre erzielte die Moderne beachtliche Erfolge. Sie leitete ein grundlegendes Umdenken in Architektur und Städtebau ein. Dazu gehörte auch die später oft geschmähte Trennung der Wohn- und Arbeitsstätten.

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Als Alternative zu der immer stärkeren Verdichtung der Städte hatte Ebenezer Howard in England die Idee der weitläufigen und durchgrünten Gartenstadt entwickelt. Für alle jene, die es sich leisten konnten, entstanden darüber hinaus fernab der urbanen Zentren zahlreiche Sanatorien, in denen sich die Lungenkranken erholen sollten. 

Ihnen wurden Luft- und Sonnenbäder auf Terrassen und Liegehallen bei ausgewogener Diät verordnet. Als habe Thomas Manns Zauberberg die Zeitenwenden überdauert, kann man sich davon noch heute im jugendstilschönen „Sanatorium Barner“ von Albin Müller in Braunlage einen Eindruck machen. 

Entscheidend für die bessere Versorgung der Bevölkerungsmehrheit mit gesundem Wohnraum war die Abkehr von den Mietskasernen mit ihren dunklen Hinterhöfen. In den Siedlungen der Moderne war dagegen die Querlüftung der ost-west-orientierten Wohnungen in den locker gereihten Zeilenbauten ebenso unverzichtbar wie fließendes Wasser und funktionierende Sanitäreinrichtungen. 

Schrei nach einer neuen Dichte im Städtebau

Kohlen musste man im Winter jedoch meist weiterhin schleppen. Der Luxus einer Zentralheizung setzte sich in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Die hygienischen Überlegungen reichten bis in Detail. 

Etwa bei der Verwendung von industriell gefertigten Stahlrohrmöbeln oder einem Bodenbelag aus Linoleum als Alternativen zum Holz, das als weniger hygienisch erachtet wurde. Damit die Wohnungen weniger feucht waren, gab es gemeinschaftlich genutzte Waschküchen. 

Ablesen lassen sich die grandiosen Erfolge der Moderne noch heute an den Siedlungen des Neuen Bauens der 1920er Jahre. Ihre Entstehung wurde in Berlin maßgeblich durch den Architekten Bruno Taut und den damaligen Stadtbaurat Martin Wagner vorangetrieben. Dank ihrer internationalen Vorbildfunktion zählen einige der Siedlungen heute gar zum Weltkulturerbe.

Von der licht- und luftlosen Atmosphäre, die in den Hinterhöfen der verhassten gründerzeitlichen Mietskasernen herrschte, sind die meisten Wohnbauten der Gegenwart weit entfernt. Der Schrei nach einer neuen Dichte im Städtebau ist gleichwohl kennzeichnend für die zeitgenössische deutsche Architektur, der es einfach nicht gelingt, den Geist der späten Postmoderne abzustreifen.

Die Corona-Pandemie, die aufzeigt, wie dünn der Zivilisationslack unserer globalisierten Lebenswelt ist, führt die Anfälligkeit des Leitbilds der dichten Stadt auf. Das Drama, das sich derzeit in New York abzeichnet, macht deutlich, dass vor allem die Bewohner der Metropolen vom Virus bedroht sind, in den dicht auf dicht gearbeitet, gewohnt, geliebt wird. 

Wenn es also darum geht, von der hygienischen Moderne zu lernen bedeutet das nicht, zwangsläufig ihre Fehler zu wiederholen. Ziel sollte es vielmehr sein, weitläufige Stadtlandschaften zu gestalten, in denen Wohnwert und Erholungswert für die Bewohner zusammenspielen. 

Allzu unkritisch haben die urbanen Verdichtungsjünger und Aufstockungsprophetinnen das hohe Lied der steinernen städtischen Plätze in den verdichteten Städten gesungen. 

Wie unverzichtbar aber eine aufgelockerte und durchgrünte Stadt für das Wohlbefinden der Bevölkerung ist, wie unverzichtbar innerstädtische Parks mit Rasenflächen und Bäumen sind, das erschließt sich spätestens bei der nächsten Pandemie. Bis dahin bleibt hoffentlich genügend Zeit, um vom Erbe der Moderne zu lernen.

Jürgen Tietz

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