Architekt Max Dudler über Bauen in Berlin: „Wir müssen wieder städtische Räume schaffen“
Der Schweizer Architekt Max Dudler ist ein Freund klarer Strukturen. Im Tagesspiegel-Interview spricht er über den Gegensatz von Urbanität und Land, fehlende Dichte in Berlin und den Klimawandel.
Herr Dudler, was bleibt von Zürich? Ich bin mit Peter Bichsel in den 80er Jahren vom Restaurant Adlisberg hinunter in die Innenstadt gefahren, damals war dort ein großes Parkhaus im Rohbau. „Seht, das ist es, was Archäologen einmal von Zürich ausgraben werden: Nackte Betonwände“, sagte er. Teilen Sie diese melancholische Weltsicht?
Bichsel, der Schriftsteller?! Zürich hat den Vorteil, dass die Stadt keine Kriegsschäden zu beklagen hatte. So gibt es eine sehr intakte Innenstadt, die auch gut bewahrt wurde. Zürich hat eine günstigere Entwicklung genommen als viele andere europäische Städte, auch gerade in Deutschland. Hier wurden Fehler gemacht.
Die da wären?
In der Nachkriegszeit wurde in Deutschland, aber auch anderswo, im Sinne einer unsäglich verflachten Moderne gegen die Struktur der gewachsenen Stadt geplant. Und danach ist die gemeinsame Orientierung verloren gegangen. Jeder macht, was er will. Man denke nur an die heutigen Vorstädte, die sogenannten Zwischenstädte. Wo Haus neben Haus steht, Grässlichkeit neben Grässlichkeit, das ist doch das eigentlich Tragische. Dagegen habe ich immer angeplant. Gerade in Zürich ist es uns gelungen, Ensembles zu bauen, wo es wieder einen Platz gibt, eine Gasse, einen Straßenraum mit städtischer Architektur. Nicht als Gegenwelt, sondern im Einklang mit der historischen Stadt.
Sie mögen außerdem keine Ghetto-Wohnprojekte, wo Menschen vereinsamen. Sie bewegen sich planerisch gerne in der gewachsenen Stadt. Berlin wächst aber derzeit ungeplant über sich hinaus in die Ränder. Werden hier Chancen verpasst?
Die Dichte fehlte und fehlt. Das gilt vor allem für Projekte am Rand, Gropiusstadt etwa. Es gibt dort nur eine Ausnutzung von Raum, aber keine räumliche Dichte. Ich verstehe Dichte als urbanes Konzept. Dichte ist wichtig für die soziale Struktur. Menschen müssen sich miteinander auseinandersetzen. Aber Dichte verlangt auf der anderen Seite, dass man Plätze schafft, dass man öffentliche Räume schafft. Es geht um die Qualität des öffentlichen Raumes. Das vermisse ich grundsätzlich an vielen Stadtentwicklungsprojekten in Berlin. Gehen Sie mal in die Quartiere! Da befällt mich schon die Bichsel’sche Melancholie. Aber das Problem wurde inzwischen sogar vom Gesetzgeber erkannt: Es ist wieder möglich, dichter zu bauen. Was auch ökologischer und ökonomischer ist. Dichte hat ein ungeheures Potenzial.
Kann Dichte auch sozial sein, wenn Sie an Hochhäuser denken?
Hochhäuser haben nur einen Sinn, wenn sie Qualität haben. Wenn man aus dem Hochhaus herauskommt und auf einen Platz kommt. Wo es vielleicht noch ein Hochhaus gibt, als Gegenüber. Sodass sich ein Ensemble bildet. Einzelne Hochhäuser sind eine Katastrophe. Die Planung von Kollhoff für den Alexanderplatz bietet da zum Beispiel einen interessanten Ansatz, finde ich.
Die Belegung des Hochhauses ist aber wieder elitär, wenn sich Vermögende am Alexanderplatz eine Wohnung kaufen. Dort haben Sie keine soziale Durchmischung.
Das hängt doch aber sehr am Bauherrn und an der Politik. Wir haben in München ein Ensemble mit hohen Häusern gebaut, da haben wir das Münchner Modell mit einem Drittel sozialer Wohnungsbau realisiert, und das funktioniert. Dreißig Prozent kann man auch im höheren Haus unterbringen, das ist kein Problem. Es ist sicherlich eine Frage der Finanzierung und auch des politischen Willens.
Daniel Libeskind hat im Tagesspiegel vor einigen Jahren die immergleichen Fassaden in Berlin kritisiert, mit Fensterkonfigurationen im Schießschartenformat – eher hoch als breit. Fühlen Sie sich angesprochen? Teilen Sie sein Unbehagen?
Tatsächlich ist die Qualität der Masse der aktuellen Neubauten unbefriedigend. Vieles entsteht zu schnell und unter zu großem Kostendruck. Ich sehe keine guten Details in den Fassaden und wenige Häuser, die man auch in 100 Jahren noch anschauen möchte. Das ist doch der Maßstab. Wenn Sie gerade den Herrn erwähnen: Ich weiß nicht, ob er in dem Punkt in Berlin als Beispiel dienen kann. Aus meiner Sicht sind seine Bauten gegen die Stadt gerichtet. Da sind wir wieder bei den Gegenwelten. Die Entwicklung von Rem Kohlhaas verstehe ich auch nicht mehr. Diese Gebäude, die hinter dem Springer entstehen. Das sind für mich Objekte, die überall stehen könnten.
Wenn wir gedanklich schon in diesem Quartier unterwegs sind: Das von Ihnen gestaltete Edelrestaurant „Sale e Tabacchi“ in der Kochstraße liegt am Checkpoint Charlie. Da liegt es nahe, Sie danach zu fragen, wie man mit diesem Unort, der aber doch von tausenden Touristen täglich ge- und besucht wird, raumplanerisch umgeht. Bitte bringen Sie etwas Ordnung in die chaotische Situation.
Das „Sale e Tabacchi“ habe ich vor 25 Jahren für einen Freund entworfen. Normalerweise werden Restaurants ja alle fünf Jahre neu gestaltet. Hier ist es anders. Die Möblierung, das gesamte Interieur sind aus unserer Hand. Für mich zeigt das Sale, welche dauerhafte Qualität zeitlose Architektur entwickeln kann. Dieser Ort hat eine einzigartige Identität entwickelt. Wie ein Bild, das man kauft, das einem vielleicht erst gar nicht gefällt, das herausfordert. Erst wenn man sich mit dem Werk beschäftigt hat, werden die Qualitäten sichtbar. Erst dann ist es Kunst. Ein Bild, das einfach nur gemalt wird und niemand setzt sich damit auseinander, ist keine Kunst.
Welches Bild vom Checkpoint Charlie würde bei längerer Betrachtung zu Kunst?
Der Checkpoint Charlie müsste im Sinne der Friedrichstraße weitergebaut werden. In die Zukunft, nicht in die Vergangenheit, vor allem auch nicht mit Objekten, mit Broschenarchitektur.
Sie meinen das Museum zum Kalten Krieg? Oder das Hotel?
Ich rede von der Architektur allgemein. Sie sollte sich mit der Straße auseinandersetzen und den Materialien dort, dem Geist des Ortes, auch mit der jüngeren Geschichte. Ohne Geschichte keine Zukunft.
Sie setzen auf Dauer und ästhetische Nachhaltigkeit. Andererseits sind ästhetische Moden und Arbeitswelten in einen immer schnelleren Wandel verstrickt: Alles scheint geradezu nach Auflösbarkeit und Veränderbarkeit von Gebäudegrundrissen und Atmosphäre zu rufen, damit Bewohner und Büroarbeiter bei Stimmung bleiben. Ihr Konzept dagegen ist: Ordnung schaffen, wo Chaos herrscht. Wie reagiert Ihre Architektur auf diese Wünsche nach Flexibilität?
Ich bin gar nicht gegen neue Prozesse. Es ist nur so, dass Klarheit und Organisation dem nicht widersprechen, im Gegenteil. In Zürich haben wir die Europazentrale für IBM gebaut, ein unheimlich klares Gebäude. Wir haben darin Orte wie Marktplätze gestaltet, Kommunikationsorte für die Mitarbeiter. In Bezug auf den Bibliotheksbau können Sie etwas Ähnliches beobachten: Vor zehn Jahren hat man uns gesagt, man brauche keine Bibliotheken mehr. Man könne sich alles, was wir wissen müssen, aus dem Internet herunterladen. Tatsächlich haben Bibliotheken einen Zulauf wie noch nie. Man diskutiert dort und lernt sich kennen – manche wollen dort auch konzentriert arbeiten.
Es sind also Orte der Kontemplation.
Genau, und eine Arbeitswelt sollte ähnlich sein. Etwas Vergleichbares haben wir bei IBM in Zürich auch versucht. Es kam sehr gut an. Zu Beginn haben sich die Mitarbeiter kontrovers mit ihrer neuen Arbeitswelt auseinandergesetzt, aber schon nach einem halben Jahr haben sie in unserer zentralen Marktplatzhalle Feste gefeiert. Es ist ein richtiger öffentlicher Raum geworden für die Mitarbeiter.
Versuchen wir, Sie etwas zu provozieren. Sie halten es ja sehr mit Steinfassaden, etwa aus Muschelkalk. Ist das mit Blick auf den Zustand der Welt nicht von gestern, sind Ihre Kollegen Richard Hassell und Wong Mun Summ aus Singapur mit ihrer „atmenden Architektur“ – einer Durchdringung von Gebäude und Landschaft – nicht näher am Thema Klimawandel, als Ihre ästhetischen Konzepte es sein können? Denken Sie an die Erderwärmung, an immer heißere Trockenphasen?
Aus meiner Sicht handelt es sich um eine Frage der Ästhetik. Mit dem Material oder der Klimakrise hat das nur mittelbar zu tun. Ein einfaches Haus mit einem moderaten Fensteranteil wird immer dauerhafter und auch klimafreundlicher sein als ein kompliziertes Glashaus mit Grünbewuchs. Die Verwendung von lebendigem Grün in der Fassade ist sicher reizvolles intellektuelles Spiel, auch wir haben damit schon zwei Wettbewerbe gewonnen. Als allgemeingültiges Modell taugt es aber nicht, ist eher luxuriöse Ergänzung. Für mich ist der Gegensatz von Urbanität und Landschaft fundamental. Das Haus steht gegen die Landschaft, das ist tief in die europäische Kultur eingeschrieben. Die Durchdringung von Gebäude und Landschaft ist dann die Abweichung. Interessant? Ja, sicher auch möglich und gut, aber in der Masse führt das zur Auflösung der Stadt, wie wir sie kennen. Das ist die größte Gefahr für die Städte: Wenn alles möglich ist und jeder Architekt immer ein bisschen spezieller sein will. Umgekehrt wäre es richtig: Architekten sollen auf das schauen, was die Stadt historisch gebracht hat und wie das fortgeschrieben werden kann. In São Paulo etwa stehen Dreigeschosser neben 100 Meter hohen Häusern, und es funktioniert. Auch Madrid funktioniert, gesellschaftlich und von der Qualität der öffentlichen Räume her. Bei uns im Norden sieht es wieder anders aus. Wenn man neue Ideen einbringen will, ist es wichtig, sie in bestehenden Strukturen zu verankern.
Man kann in Berlin gelegentlich den Eindruck gewinnen, dass nur noch sozialer Wohnungsbau realisiert werden soll und für Architekten wie Sie in der Stadt eigentlich kein Platz mehr sei. Müssen Sie auch Angst vor dem „Mietendeckel“ haben und über eine Verlegung Ihres Berliner Zweitsitzes nachdenken? Oder arbeiten Sie sich ohnehin eher an internationalen Projekten in Antwerpen, Moskau, Wien und Istanbul ab als an Berliner Vorhaben?
Wir bearbeiten einige Projekte in Berlin, derzeit etwa die Erweiterung des Preußischen Herrenhauses für den Bundesrat. Und wir haben hier noch einige andere sehr schöne Projekte in Arbeit. Ich habe eine gewisse Beziehung zu Berlin, habe hier an der Hochschule der Künste studiert und mich hier sozialisiert. Berlin ist eine interessante Stadt. Was Sie ansprechen, ist eine politische Frage. Ich glaube, es ist schwierig zu beurteilen.
Aber es beeinflusst das Bauen.
Die Wohnungsfrage ist ein sehr ernstes Problem. Aber ich bin nicht sicher, ob die Politik hier derzeit klug agiert. Sie können mit sieben oder acht Euro keine gescheiten Bauten machen. Es ist unmöglich. Und es ist eine Gefahr für die Stadt, wenn wir nur noch Wärmeverbundsystemhütten auf die grüne Wiese stellen. Das ist der Müll der Zukunft, das ist die größte Frechheit, was da passiert. Durch den Kostendruck geht es nur mit fragwürdigen Mitteln. Hätten wir 10 oder 20 Prozent mehr Budget, könnten wir dauerhafte, auch ökologisch sinnvollere Gebäude bauen.
Es gibt Kollegen von Ihnen, die Neubauten für acht Euro errichten. In modularer Bauweise, ohne Aufzug, Keller und Balkone.
Ich bin sowieso gegen Balkone. Von mir aus kann man die Aufzüge auch weglassen, das verhindert zwar die Teilhabe aller, ist aber gesund für die Menschen. Wir haben in Lichtenberg für die Howoge auch für sehr wenig Geld gebaut. Dort haben wir ein kleines Ensemble unter Einbeziehung eines historischen Gebäudes geschaffen. Immerhin gab es eine neue räumliche Beziehung, eine Raumfolge von halboffenen Höfen. Aber in Bezug auf die Qualität war das an der Grenze dessen, was ich vertreten kann. Aber mir geht es um eine grundsätzliche Sache: Wir müssen städtische Räume hinbekommen. Nur so hat es einen Sinn. Wenn man nur Platte neben Platte hinsetzt, ist es keine Verbesserung der Situation.
[Das Interview führte Reinhart Bünger. Architekt Max Dudler, geboren am 18. November 1949 im schweizerischen Altenrhein, hat an der Frankfurter Städelschule und an der Berliner Hochschule der Künste studiert, wo er 1979 sein Diplom machte. Sein Markenzeichen sind klare, fast strenge Fassaden unter Verwendung von viel Stein. Er unterhält ein Büro in Berlin am Oranienplatz. Zu seinem Portfolio gehören Geschäfts-, Wohn- und Einfamilienhäuser, Verkehrs- und Industriebauten. Auch in Berlin hat Max Dudler viele Projekte realisiert, von denen das prägendste das Jacob-und-Wilhelm- Grimm-Zentrum der Humboldt- Universität ist. Gerade gebaut wird der neue U-Bahnhof Museumsinsel der U5, den Dudler nach dem Vorbild von Schinkels Bühnenbild für Mozarts „Zauberflöte“ gestaltet hat.]
Wie vor bald 100 Jahren wurde ein städtebaulicher Ideenwettbewerb Berlin-Brandenburg 2070 ausgeschrieben. 1920 entstand Groß-Berlin. Geht es jetzt darum, Noch-Größer-Berlin zu schaffen? Oder steuern wir weltweit auf Städte zu, in der allein noch Bibliotheken so etwas wie Stadtteilzentren sind – Städte also ohne Mitte und Ordnung?
Das ist ja das Problem in Berlin, dass es zu wenig dicht ist. Wir versuchen immer noch neue Gebiete zu akquirieren, auszuweisen und auszuschreiben, statt die Stadt dichter zu machen. Und höhere Häuser zu bauen. Wir müssen die Stadt dichter machen und nicht noch viergeschossige Siedlungsbauten vor Berlin hinbringen. Verdichtung nach Innen nennt man das in der Schweiz.
Sie stammen aus einer Steinmetzfamilie. Welche Orte, welche bildhauerischen Arbeiten in Berlin erinnern Sie an Ihre Kindheit?
Ich habe einige Schlösser weitergebaut, in Hambach oder in Heidelberg. 400 Jahre Baugeschichte mit moderner Architektur weiterzubauen: Für diese gestalterische Transformation braucht es die Erfahrungen aus der Steinmetzkunst, damit das auch handwerklich gelingt. Aber in Berlin vielleicht weniger. Wir sitzen hier im Max-Taut-Haus, das hat zum Oranienplatz hin eine Steinfassade und zum Hof hin glasierte Spaltachtel. Das möchte ich gerne weiterführen. Das Haus ist jetzt 100 Jahre alt, mit den gleichen Fenstern. Da sind viele Sachen passiert. Vom Kaufhaus wurde es zum Künstlerhaus, jetzt sind Architekten und Werber drin. So sehe ich eigentlich einen Hauszyklus: dass man ihn weiterdenken kann.
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