zum Hauptinhalt
Magische Unergründlichkeit. Handkolorierte Illustration von Harry Clarke für eine englische „Faust“-Ausgabe (1925).
© Imago

Goethes Werk kritisch beleuchtet: Die Abgründe des „Faust“-Mythos

Schlüsselmythos der Moderne, Weizenbier-Inspiration, Nazifetisch und Propagandamittel: Zwei neue Bücher dekonstruieren das deutsche Faszinosum "Faust".

Vor einem Vierteljahrhundert sprach der Germanist Albrecht Schöne die Hoffnung aus, dass es mit der faustischen Überhöhung in Deutschland vorbei sei. Das blieb ein frommer Wunsch. So fand in München von Februar bis August ein gigantisches „Faust-Festival“ statt, das die Stadt mit 750 Veranstaltungen überrollte. Ausgehend von der Kunsthallen-Ausstellung „Du bist Faust“ wurde Goethes Figur als Schlüsselmythos der Moderne vermarktet. 250 000 Besucher zahlten Eintritt und berauschten sich am speziell gebrauten „Faustus“-Weizenbier.

Nun sind zwei Bücher erschienen, die ein kritisches Licht darauf werfen: Claudia Schmölders’ „deutsch-griechische Faszinationsgeschichte“ über Faust und Helena sowie W. Daniel Wilsons Dokumentation „Goethe und die Goethe-Gesellschaften im Dritten Reich“. Beide diskutieren über die Geschichtlichkeit des „Faust“-Dramas und wenden sich gegen die Tendenz zur Entpolitisierung der Literatur- und Kulturwissenschaften. Dabei geht es auch um die Ethik der Klassik.

Goethe prägte das Bild eines „arischen“ Hellenentums mit

Claudia Schmölders, bekannt durch ihre kulturhistorischen Studien zur Physiognomik („Hitlers Gesicht“), hält das überlieferte Goethe-Porträt der philhellenischen Paarbeziehung für „ideengeschichtlich unterbelichtet“. Selten sei „ein politischer Akt so bildungsschwer vorbelastet wie der deutsche Einmarsch in Griechenland im April 1941“. In ihrer Beschreibung der unseligen deutschen Graekomanie stützt sie sich auf einen Text der irischen Germanistin Elsie Butler von 1935: „The Tyranny of Greece over Germany“. Demzufolge erfanden Winckelmann, Goethe, Hölderlin, Nietzsche und andere deutsche Geistesgrößen das Bild eines „arischen“ Hellenentums, das in der Spätantike untergegangen sei.

So war Helena für Goethes Faust und Hitlers Offiziere nicht nur Sexualobjekt und Kulturideal, sondern vor allem Ziel der kolonialen Rückeroberung. Butler beschrieb den gierigen deutsch-österreichischen Blick auf Hellas in „höchster Sorge“. 1933 wurden auch schon die Salzburger Festspiele als graekomanisches Festival inszeniert, bei dem eine pompöse „Faust-Stadt“ als Kulisse für die Strauss-Oper „Helena“ diente.

Butlers Goethe-Kritik orientierte sich offensichtlich an Heinrich Heine, in dessen Tanzpoem nicht der stürmische Faust dominiert, sondern Helena und Mephistophela den Takt angeben. Schmölders gelingt es, die Griechenland- und Europakrise auch kulturhistorisch zu aktualisieren. Mit seiner Kritik „von außen“ ergeht es dem gebürtigen Amerikaner W. Daniel Wilson heute ähnlich wie damals Elsie Butler. Immer dann, wenn er „etwas Kritisches zum politischen Goethe publizierte“, schreibt er im Vorwort, war man „empört, dass ein Ausländer ein deutsches Heiligtum angreift“. Vertreter der germanistischen Zunft wie Hans-Jürgen Schings warfen ihm vor, „mit schrillem Kampf- und Verdächtigungsvokabular“ das „Goethe-Tabu“ brechen zu wollen.

Die Goethe-Gesellschaft ließ sich in NS-Propaganda einbinden

Wilson ging und geht es darum, das Janusgesicht von Goethe aufzuzeigen: den Aufklärer, Weltbürger und Pazifisten, der zunehmend vom Gegenaufklärer, Kriegsbefürworter und Judenfeind „verdrängt“ wurde. So steht auch in seiner neuen Materialsammlung über die Goethe-Gesellschaft in der NS-Zeit „Helles neben Dunklem“, wobei das Dunkle der Gleichschaltung überwiegt. Im Vergleich zur Kleist-Gesellschaft etwa blieb die Goethe-Gesellschaft relativ selbstständig. Doch das, erklärt er, sei Teil eines perfiden faustischen Paktes gewesen. Gerade wegen ihrer „Weltmission“ wurden die Goetheaner vom Regime bevorzugt und hinter den Kulissen in die NS-Politik und Propaganda eingebunden, wobei man die Ausgrenzung jüdischer Mitglieder zu vertuschen versuchte. Akten über diese Vorgänge habe man nach 1945 vernichtet.

Noch 1943 benutzte Goebbels Goethe demonstrativ für antisemitische Propaganda. Und der Germanistikprofessor Karl Gabler erklärte: „Im Dritten Reich erst hat deutsches Streben endlich seine eigentliche – die von Goethe im ,Faust‘ ihm gewiesene – Bahn gefunden.“ Obwohl, so Wilson, „einiges am braunen Goethebild Hand und Fuß hatte“, konnte man nach dem Krieg „bequem die These der Judenfeindlichkeit Goethes als Naziposition verwerfen“.

So erinnerte Richard Alewyn im Goethejahr 1949 mit seiner viel zitierten Formel „Zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald“ an das unselige deutsche Erbe, trennte aber säuberlich zwischen Klassik und Nationalsozialismus: hier „die Humanität“, dort „die Bestialität“. Für Wilson gehört diese „Selbstreinigung der Goetheaner“ zur Geschichte einer Verdrängung.

Claudia Schmölders: Faust und Helena. Eine deutsch-griechische Faszinationsgeschichte. Berenberg Verlag, Berlin 2018. 304 S., 26 €.

W. Daniel Wilson: Der Faustische Pakt. Goethe und die Goethe-Gesellschaft im Dritten Reich. dtv, München 2018. 368 S., 28 €.

Zur Startseite