1893 bis heute: Deutsches Architekturmuseum blickt auf Frankfurts Altstadt
Frankfurt am Main feiert sich in seiner wiedererrichteten Altstadt. Eine Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum arbeitet sich durch die Zeitschichten.
Frankfurt hat am Wochenende ausgiebig seine neue Altstadt gefeiert, den Wiederaufbau des Areals zwischen Rathaus, Römer genannt, und Dom. Für den lokalpatriotischen Bücherschrank wurde zudem eine opulente, zweibändige Festschrift aufgelegt. Es sei gelungen, heißt es darin, „die Altstadt in ihrer alten Maßstäblichkeit wiedererstehen zu lassen“.
Tatsächlich? Sowohl der Jubel als auch die Kritik, mit der das Ereignis bedacht wurde, führen in die Irre. Frankfurt hat nicht „die“ Altstadt wiedergewonnen. Fotografien des Jahres 1935 über die verschachtelten Dächer hinweg lassen das wahre Ausmaß der Altstadt erahnen, die in drei alliierten Bombenangriffen des Frühjahrs 1944 vollständig zerstört wurde. Das jetzt bebaute Gelände, gerade einmal 7000 Quadratmeter messend, nimmt davon nur einen kleinen Teil in Anspruch.
Ausstellung bietet hervorragenden Katalog
Es gilt, die Maßstäbe zurechtzurücken. Die meinungsstarken, zuletzt noch einmal heftiger gewordenen Kontroversen um den Wiederaufbau hat das deutsche Architekturmuseum (DAM) der Main-Metropole zum Anlass genommen, die Geschichte dieses Herzstücks der Altstadt aufzuarbeiten. In der Ausstellung und dem hervorragenden Katalog sind Fotos zu sehen, die das 1944 für immer untergegangene Frankfurt zeigen, von dem die jetzige Altstadt-Assemblage nur einen vagen Eindruck vermitteln kann.
Dass dieser Eindruck gleichwohl seine Wirkung auf die anbrandenden Besuchermassen nicht verfehlen wird, liegt eben daran, dass uns Heutigen die Vergleichsmöglichkeiten fehlen. Es gibt keine deutsche Stadt mehr, die das Bild eines über Jahrhunderte gewachsenen und in historischen Schichten gelagerten Organismus bieten könnte, vor dem allein die Frankfurter Rekonstruktion zu beurteilen wäre. Die wenige Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg in vielen Städten entstandenen Schwarz-Weiß-Fotos zeigen, dass es noch den heutzutage besterhaltenen Stadtkernen an jener Dichte und Zufälligkeit, eben jenem Organischen mangelt, das auf der einen Seite als romantisches Ideal, auf der anderen als hygienische Problemstätte gelten mochte.
Die Altstadt wurde früh zum Problem
Es gibt immer zwei Seiten. Die Ausstellung des DAM macht das auf unangestrengte Weise deutlich – indem sie die historischen Fakten ausbreitet und die Akteure der verschiedenen Zeitschichten zu Wort kommen lässt. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Altstadt zum Problem geworden, beginnend mit dem Durchbruch der Braubachstraße, die die Straßenbahn endlich auch durch die Altstadt führen sollte. Mit den für diesen Straßendurchbruch notwendigen Abbrucharbeiten an rund 100 Häusern – drei Mal so viele, wie jetzt neu errichtet worden sind! – ab 1893 setzt die DAM-Ausstellung ein.
Im zugehörigen Katalogaufsatz heißt es, „die – tatsächlichen und bisweilen vermeintlichen – hygienischen Missstände sollten (...) später zum Lieblingsthema der Städtebauer werden“. Dieser Hinweis ist wichtig, denn die immer wieder behauptete Verwahrlosung der Altstadt diente zunächst den Sozialreformern der zwanziger Jahre zur Begründung ihrer Siedlungsbauten am Stadtrand, anschließend dem NS-Regime zur Rechtfertigung von „Altstadtauskernung“ samt „Verpflanzung asozialer Elemente“. Sie wurde in jüngster Zeit erneut ins Feld geführt, um die Rekonstruktion der Altstadt als geschichtsblind zu verteufeln. Tatsächlich dürfte der Zustand der von Handwerkern und Markthändlern bewohnten Altstadt alles andere als der heute behauptete Slum gewesen sein.
Neuschöpfungen bewahren die Erinnerung
Die Braubachstraße, die nördliche Begrenzung der Kern-Altstadt, wurde von großstädtischen Bauten gesäumt. An deren Stelle trat 1974 das Technische Rathaus, dessen maßstabssprengender Umfang und brutale Betonästhetik erst den Anstoß gaben, die verlorene Altstadt zurückzugewinnen. Es wurde in den seit dem Wiederaufbaubeschluss von 2005 in breitester Öffentlichkeit geführten Kontroversen übersehen, dass auch die Braubachstraße in die Rekonstruktion einbezogen ist. Sie liefert jetzt mit Gebäuden, die die Moderne um 1900 zitieren, einen hochinteressanten Beitrag zur Architektur unserer eigenen, heutigen Zeit.
Das ist überhaupt der Blickwinkel, unter dem die „neue“ Altstadt zu betrachten wäre, jenseits der im Augenblick erst einmal sich selbst feiernden Fachwerkromantik: dass nämlich unter den gerade einmal 35 auf dem Areal aufgeführten Bauten lediglich 15 sind, die in ihrem Äußeren – und auch nur dort – als Rekonstruktionen gelten können, zwanzig hingegen vollständige Neuschöpfungen sind. Diese Neuschöpfungen bewahren weniger das verlorene Bild ihrer Vorgänger als vielmehr eine leise Erinnerung daran; so, wie in zahllosen deutschen Städten nach der Kriegszerstörung historische Formen im Neubau „erinnert“ worden sind. Streit um Steildächer und Giebel hat es allerorten gegeben, breites Einverständnis aber auch; man denke nur an Münster und seinen Prinzipalmarkt.
Statt in die Falle der Nostalgie zu tappen und von der Frankfurter Altstadt als reinem Nachbau zu schwärmen, sollte man eher den Begriff des „Bauens im Kontext“ bemühen. Die neuen Entwürfe tun genau dies: Sie respektieren den Kontext der Geschichte. Sie nehmen Geschichte an – ihre Formen, ihr Material – und messen sich an ihr auf schöpferische Weise.
Dass bei der Altstadt-Neubebauung weniger ein gleichförmiges als vielmehr stimmiges Erscheinungsbild erzielt wurde, ist das Verdienst des Gestaltungsbeirats unter Leitung von Christoph Mäckler, der das heutige Frankfurt mit seinen Hochhäusern mitgeprägt hat. Die ästhetische Qualität der neuen Altstadt steht außer Frage. Die – höchst anregende und wohltuend sachliche – Ausstellung im DAM wie die Festschrift der Stadt geben Gelegenheit, die Sorgfalt der handwerklichen Ausführung aller Details an Fotografien zu studieren, deren Nahsicht dem Fußgänger unerreichbar bleibt.
Unter diesem Blickwinkel verdienen die drei wuchtigen Neubauten entlang der Braubachstraße weit stärkere Beachtung, als das bislang mit der Fixierung auf die Kleinteiligkeit der Altstadt geschehen ist. Die Architekten, ob aus Frankfurt, Leipzig oder Berlin, zeigen sich dem Konzept der „Kritischen Rekonstruktion“ verpflichtet, wie es der verstorbene Josef Paul Kleihues beispielhaft vertreten hat. So ist ein Ensemble entstanden, das die Vielfalt des Umgangs mit dem architektonischen Erbe vorführt. Entlang der Braubachstraße stechen die Bezüge zu jener großstädtischen Architektur vor dem Ersten Weltkrieg hervor, die nicht zuletzt durch Julius Posener in ihrem historischen Wert gewürdigt worden ist.
Die Neubauten in den schmalen Gassen der Altstadt müssen optisch naturgemäß hinter den Rekonstruktionen zurückstehen, die – wie etwa das Kreuzrippengewölbe im Haus „Klein Nürnberg“ – zu Bravourstücken des Bauhandwerks gerieten. Allerdings gestatteten die bau- und feuerpolizeilichen Vorschriften nicht – heißt es jedenfalls –, die historischen Gebäude vollständig in historischer Technik wiederzuerrichten, wie das in Hildesheim beim ganz aus Holz erbauten „Knochenhaueramtshaus“ möglich war. Doch auch so ist enorme Sorgfalt angewandt worden – und sichtbar, wie beim offenen Marktstand des „Neuen Roten Hauses“. Solche handwerkliche Finesse lässt sich offensichtlich nicht im normalen Baugeschehen realisieren. Einmal, weil sie nicht zu bezahlen ist, und zum anderen, weil solche Steinmetze und Zimmerleute rar gesät sind, die sich in die Techniken der Vergangenheit regelrecht einfühlen.
Übrigens ist auch ein Neubau zu erwähnen, der nicht zum Dom-Römer-Areal gehört, aber mit dessen wechselvoller Geschichte nach 1945 aufs Engste verbunden ist: das Historische Museum Frankfurt. Erst im vergangenen Oktober wurde dessen Gebäude nach Entwurf des Stuttgarter Büros Lederer Ragnarsdóttir Oei eröffnet, das an die Stelle des gleichzeitig mit dem Technischen Rathaus errichteten und mit diesem auch wieder abgerissenen Vorgängerbaus getreten ist. Der Neubau des stets auf sorgfältige Materialwahl bedachten Lederer, zugleich Mitglied des Altstadt-Gestaltungsbeirats, greift den ortstypischen Mainsandstein auf, ohne sich anzubiedern.
Der Altstadt-Wiederaufbau steht für den Zeitenwandel
Man könnte lange über die Einzelheiten des Ensembles sprechen, das da zwischen Dom und Römer entstanden ist. Und gerade weil es die heutigen Möglichkeiten – auch die intellektuellen! – bis zum Rand ausschöpft, macht es die Grenze heutiger Rekonstruktionen deutlich: Sie werden immer nur der Sonderfall bleiben. Und so bitter es ist, unterstreichen sie in der ihnen anhaftenden Künstlichkeit das Unwiderrufliche des Verlustes, den Kriegszerstörung und Nachkriegsabrisse verursacht haben.
„Das Neue stürzt und altes Leben blüht aus den Ruinen“, heißt es in ironischer Umkehrung des Zitats aus Schillers „Wilhelm Tell“ am Giebel des neuen „Glauburger Hofs“ in der Braubachstraße. Dessen 1914 errichteter Vorgänger musste Anfang der siebziger Jahre dem Technischen Rathaus weichen, das nun seinerseits Vergangenheit ist.
Bei Schiller heißt es vollständig: „Es ändert sich die Zeit.“ Genau dafür steht der Altstadt-Wiederaufbau: dass sich die Zeiten geändert haben. Wir können uns, und sei es auf begrenztem Raum, die Vergangenheit aneignen. Sie ist unser Erbe.
Frankfurt/Main, Deutsches Architekturmuseum, Schaumainkai 43, bis 10. März. Katalog im Jovis Verlag, 48 €, im Buchhandel 58 €. – Mehr unter www.dam-online.de
Bernhard Schulz
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