Ödön von Horváth: Der Volksversteher
Ödon von Horváth ist einer der meistgespielten Dramatiker auf deutschsprachigen Bühnen. Was macht ihn so anschlussfähig für die Gegenwart?
Der Schüler B weiß Bescheid. Warum wir Kolonien brauchen? Wegen der Rohstoffe, ohne die unsere stolze Industrie nicht weiterschnurren würde, was wiederum schlecht wäre für den heimischen Arbeitsmann. „Es dreht sich zwar nicht um den Arbeiter“, schließt der Junge in einer erstaunlichen Volte, „es dreht sich um das Volksganze, denn auch der Arbeiter gehört letzten Endes zum Volk“.
Sein Kamerad N hingegen hält sich gar nicht erst mit populären Betrachtungen auf. Er schreibt über die Schwarzen (unter Verwendung des N-Wortes). Sie alle seien „hinterlistig, feig und faul“. Schon will der kopfschüttelnde Lehrer „sinnlose Verallgemeinerung“ an den Aufsatzrand notieren, da stockt ihm der Stift. Tönte derselbe Unsinn nicht unlängst erst aus den Lautsprechern im Restaurant?
Die Szene stammt aus Ödön von Horváths 1937 erschienenem Roman „Jugend ohne Gott“, der in näherer Zukunft gleich zwei Berliner Theatermacher beschäftigen wird. Regisseur Nurkan Erpulat bringt das hellsichtige Buch im April am Gorki-Theater auf die Bühne, Schaubühnen-Leiter Thomas Ostermeier inszeniert es im Sommer als Koproduktion mit den Salzburger Festspielen. Vor Kurzem erst hatte in seiner Regie am Lehniner Platz Horváths „Italienische Nacht“ Premiere, diese Wirtshaus-Moritat über einen sozialdemokratischen Ortsverein, der sich in Richtungsstreit, gestriger Folklore und Erotik verliert, während vor den Fenstern die Faschisten aufmarschieren. Da liegen die Parallelen zur Gegenwart auf der Hand.
Anschlussfähig für Christoph Marthaler, Johan Simons oder Frank Castorf
Mit Horváth gegen rechts – das geht immer. Der Autor war überzeugter Linker, allerdings ohne den Lehrstück-Anspruch seines Zeitgenossen Bert Brecht. „Ich habe kein anderes Ziel als dies: Demaskierung des Bewusstseins“, schrieb er in einer seiner raren Selbstauskünfte. Vermutlich deshalb war Horváth nie wirklich démodé, ist er ein Unverwüstlicher der deutschsprachigen Spielpläne geblieben, anschlussfähig für so wesensverschiedene Regisseure wie Christoph Marthaler, Johan Simons oder Frank Castorf.
Mutmaßlich hätte der Dramatiker auch nichts dagegen gehabt, für ferne Aktualitäten herzuhalten. Er macht ja selbst, vor allem in seinen Berliner Jahren, tagespolitisches Zeitungstheater. Bringt, „was er morgens liest, abends in dialogische Form“, so beschreibt es Dieter Hildebrandt in seiner Horváth-Biografie. Auf diese Weise entsteht etwa das frühe Stück „Revolte auf Côte 3018“ über skandalöse Begebenheiten beim Bau der Zugspitzbahn. Man muss sich trotzdem hüten, historische Eintöpfe anzurühren. Horváths Stücke und Romane entstehen unter dem unmittelbaren Eindruck von Inflation und Wirtschaftskrise, einer Zeit mit zuviel Geld und zu wenig Arbeit, inklusive der fatalen Verquickungen von Ökonomie, Ideologie und Erotik. Seine Frauenfiguren leben in scheußlichen Abhängigkeiten („Papa sagt immer, die finanzielle Unabhängigkeit der Frau vom Mann ist der letzte Schritt zum Bolschewismus“, so die Marianne in „Geschichten aus dem Wiener Wald“). Und die abgebauten Männer wissen nur zu gut um ihre sinkenden Attraktivitäts-Aktien. Wird der Mann arbeitslos, erläutert der Schürzinger in „Kasimir und Karoline“, „dann lässt die Liebe nach, und zwar automatisch“.
Wir leben nicht in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit. Es zieht, hoffentlich, auch kein neuer Faschismus auf. Und doch ist Horváths Milieu der Kleinbürger und Proletarier (im Gegensatz zur Bourgeoisie bei Ibsen oder Tschechows verarmtem Landadel) eines, das zur Gegenwart spricht. Vorsicht ist geboten vor dem Sozialporno, der aus dem Parkett mit Wohlgefühl auf „Kleine Leute“ herabsieht. „Die Begierden der Reichen“, so steht's im Katalog der jüngst in Wien zu Ende gegangenen Horváth-Ausstellung mit dem Titel „Ich denke ja gar nichts, ich sage es ja nur“, sind in diesem Dramen-Kosmos „nicht minder ‚klein’, schäbig und vordergründig“ als die der Depravierten.
Was Horváth mit den Gelbwesten zu tun hat
Aber wie Horváth seine Figuren beschreibt, von Abstiegsangst durchdrungen, verzweifelt um den kleinen gesellschaftlichen Vorsprung kämpfend, den sie sich erarbeitet haben – das hat sehr viel zu tun mit einer heutigen „classe populaire“, wie Édouard Louis sie nennt. Mit wütenden Gelbwesten und Rust-Belt-Bewohnern in ihrem Furor gegen die urbanen Kosmopoliten. Nicht von ungefähr sind Horváths Stücke an den Peripherien der Metropolen angesiedelt, auf den Oktoberfesten, Praterwiesen und in den Randbezirken, wo Stadt- und Landbevölkerung sich entfremdet begegnen. Dabei war Horváth ja selbst ein Diplomaten- und Kaufmannssohn. Früh globalisiert zwischen Österreich, Ungarn, Deutschland, mehr zu Hause in der Villa in Murnau als im Arbeiterbezirk. Allerdings: „Kellner, Garderobenfrauen, Gastwirte, Straßenhändler, Fischerweiber, Polizisten, kurz: ‚das kleine Volk’, es fühlte sich magisch angezogen von Ödön von Horváth“, wie der Berliner Journalist P. A. Otte notiert. Entsprechend ist ja die gültige Genre-Bezeichnung für seine Arbeiten das „Volksstück“. Verfasst in diesem eigentümlichen Idiom aus Dialekt und überhöhter Sprache, das nie den Kitsch-Verdacht aufkommen lässt, hier sei „Authentisches“ probiert worden.
In seinem Kunstspiegel zeigt der Autor brutalisierte Menschen, aber er denunziert sie nie. Ein Volksversteher zu sein - das hatte Horváth Linken wie Rechten voraus. Die gleiche Scharfsicht fällt auf die Jugend, die ja letzten Endes auch zum Volk gehört. Es ist eine nihilistische Generation, die Horváth in „Jugend ohne Gott“ beschreibt, eine, die ideologisch verloren zu gehen droht. Gar nicht mal aus Überzeugung – wie auch? in so jungen Jahren –, sondern weil Radikalisierung und verrohte Rede das Selbsterlebnis versprechen.
Eben diese kalte Empathielosigkeit hat heute Konjunktur in den sozialen Netzen, wo Hate Speech, misogynes Getrolle und Xenophobie den Ton angeben. Bei Horváth heißt es: „Das Zeitalter der Fische“.
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