Roman von Siegfried Lenz: "Der Überläufer": Irgendwo zwischen Polen und der Ukraine
Vergeblicher Kampf auf der Seite der Gerechten: Mit „Der Überläufer“ erscheint ein bereits 1952 vollendeter Roman aus dem Nachlass von Siegfried Lenz.
In einem Interview einige Jahre vor seinem Tod sprach Siegfried Lenz davon, wie voll seine Schubladen mit Manuskripten seien, „die mir zum Zeitpunkt des Schreibens entsprachen, jetzt aber nicht mehr“. Lenz erwähnte in diesem Zusammenhang auch, dass er einst darauf verzichtet hatte, ein Vor- oder Nachwort zu einer Neuausgabe seines 1951 erschienen Debütromans „Es waren Habichte in der Luft“ zu liefern: „Wie fern das alles war, wie uneinholbar.
Wie mühselig es war, mir anzueignen, was mir einst gehört hatte und immer noch gehörte“, gestand er in einem seiner wenigen autobiografischen Texte.
Insofern ist es nun nicht gleich „eine Sensation“, wie der „Spiegel“ jubilierte, wenn nun knapp anderthalb Jahre nach Lenz’ Tod aus dessen Nachlass ein fix und fertiger Roman veröffentlicht wird: „Der Überläufer“. Dieser Roman ist sein eigentliches Zweitwerk, von Lenz 1951 verfasst unter dem Arbeitstitel „... da gibt’s ein Wiedersehen“. Tatsächlich war die Existenz dieses Romans nahezu unbekannt.
Die Mentalität im Nachkriegsdeutschland
Lenz hatte darüber immer Stillschweigen gewahrt, vermutlich weil er bei der Wiederlektüre seiner alten Arbeiten eben immer eine gewisse Fremdheit verspürte, den Zwang, etwas zu verändern, aber auch weil er sowieso ungern autobiografische Auskünfte gab.
Dabei ist die Geschichte der Genese, Ablehnung und ausbleibenden Veröffentlichung von „Der Überläufer“ nicht weniger aufschlussreich als der Roman selbst.
Er handelt von der brüchigen Mentalität im westlichen Nachkriegsdeutschland – während der Roman zuerst von den Wirren des Krieges an der Front irgendwo zwischen Polen und der Ukraine erzählt, von einer Gruppe deutscher Soldaten, die sich zahlreichen Angriffen von Partisanen ausgesetzt sieht und nach und nach dezimiert wird.
In der zweiten Hälfte geht es dann ausschließlich um den deutschen Überläufer, der sich der Roten Armee anschließt und nach dem Krieg in der sowjetischen Besatzungszone alles andere als glücklich wird: aus Gewissensgründen, er hat in den letzten Kriegstagen seinen Schwager erschossen. Und weil unter den neuen Machthabern viel Misstrauen herrscht, Menschen wie Ersatzteile ausgewechselt werden und bei „Säuberungsaktionen“ verschwinden.
„Ein solcher Roman hätte 1946 erscheinen können“, doch „heute will es bekanntlich keiner gewesen sein“.
Lenz begann mit „Der Überläufer“ kurz nach einer Nordafrika-Reise, die er mit seiner Frau Liselotte Mitte April des Jahres 1951 von den Tantiemen von „Es waren Habichte in der Luft“ gemacht hatte. Lenz schrieb zügig, denn schon im Herbst desselben Jahres wurde das Romanprojekt, von dem die ersten Kapitel an Zeitungsredaktionen verschickt worden waren, in einer Sammelbesprechung der „Zeit“ über Bücher über den Zweiten Weltkrieg erwähnt – und gepriesen. Im Januar 1952 hatte Lenz seinem Verlag Hoffmann & Campe eine zweite Fassung mit 16 Kapiteln geschickt, die auch die Grundlage der nun veröffentlichten Ausgabe von „Der Überläufer“ darstellt.
Das Problem damals: Der vom Verlag bestimmte Lektor des Romans, der Karlsruher Germanist und Volkskundler Otto Görner, war von der ersten zur zweiten Fassung zu einer fast entgegengesetzten Beurteilung gekommen. Hatte er zunächst von der Wucht des Romans geschwärmt, „die den Leser im Genick packt“ – er meinte damit vor allem die Kapitel, in deren Vordergrund der Partisanenkrieg steht –, sprach er nach Erhalt der zweiten Fassung davon, dass ein „solcher Roman 1946 hätte erscheinen können“, doch „ heute will es bekanntlich keiner gewesen sein“. Lenz hatte sich in seiner Überarbeitung vor allem an den zweiten Teil gesetzt und ganze Kapitel neu geschrieben, um all die Verstrickungen seines Heldens Walter Proska und dessen Kampf „auf der Seite der Gerechten“ noch besser in Szene setzen: „Proska hielt die Folgen seines Entschlusses aus. Aber er hatte sein automatisches Gewehr noch nie auf einen seiner ehemaligen Kameraden gerichtet.“
Die eigenen Erfahrungen mussten für Lenz immer durch den Filter der Erfahrung
Es sind die frühen fünfziger Jahre, der Kalte Krieg hat begonnen, der Verlag Hoffmann & Campe vertraut seinem externen Lektor und sorgt sich um die politische Stimmung. Ein Überläufer als tragischer Held, übergelaufen von den Deutschen zu den Sowjets; dazu ein weiterer Soldat, „das Milchbrötchen“ genannt, ein gewisser Wolfgang, der Proska erst zum Überlaufen animiert. Und der überhaupt die Figur ist, die Lenz’ Ansichten und Gedanken über den Tod, moralisches Handeln oder das deutsche Wesen transportiert und Sätze sagt wie: „Ansteckend jedoch ist das nationalistische Ressentiment. Dieses Ressentiment ist die Wurzel des deutschen Hochmuts und der Quell dieses gottverdammten Auserwähltheitsbewusstseins“ – all das schien zu viel des Diskursiv-Provokativen in einer Zeit zu sein, in der sich die deutsche Teilung einerseits zu manifestieren beginnt, man aber andererseits gerade auch in der noch jungen Bundesrepublik lieber nach vorn als nach hinten schaute.
Lenz aber ist sich sicher, genau das getan zu haben, was ihm sein Lektor Görner in einem Brief abspricht, „endlich einmal ernsthaft über die Möglichkeiten des Romans nachzudenken, die in seinem Stoff liegen“. Der junge, 26 Jahre alte Autor schreibt einen Antwortbrief, in dem er die Anwürfe Görners freundlich-bestimmt zurückweist. Und er betont, keinen anderen als genau diesen Roman schreiben zu können, weshalb er ihn nun als „geziemendes Training“ betrachte, „das ja schließlich die conditio sine qua non für einen jungen Schriftsteller ist“. Trotz der Pläne, womöglich aus dem sogenannten Partisanen-Teil eine Novelle zu machen, war das Lenz’ letztes Wort in dieser Angelegenheit, zu diesem Roman.
Passagenweise ist Lenz schon auf der Höhe seiner Sprache, seiner Bildkraft.
Ob er ihn sich noch einmal angeschaut hat? Und er dann, wie bei „Es waren Habichte in der Luft“, den Wunsch verspürt hat, „einzugreifen, umzuschreiben, die Charaktere neu zu konzipieren, die Ereignisse neu zu organisieren“? „Der Überläufer“ ist ein eindrucksvoller, aber kein überragender Roman. Er ist besser als „Duell mit dem Schatten“, der offiziell zweite Lenz-Roman, der 1953 veröffentlicht wurde und den er später als „in jeder Hinsicht missglückt“ bezeichnete – aber eben auch das Werk eines jungen Autors, der weniger seine Sprache als noch vielmehr seine Form sucht, der seine konzeptuellen Möglichkeiten erkundet.
Das Überläufer-Thema scheint er erst spät als das zentrale, ihm womöglich wichtigste Thema erkannt zu haben, trotz der Bande, die Proska zu Beginn zu der Partisanin Wanda knüpft. Viele Szenen in und um den Unterschlupf der Deutschen, ihre „Festung“, die sie „Waldesruh“ getauft haben, wirken mehr aneinandergereiht, als dass sie einer schlüssigen Dramaturgie folgend verbunden sind. Auch die letzten Kapitel mit Proska bei der Roten Armee sind mitunter isolierte Erzählstücke, die dann auch ins masurische Lyck führen, den Geburtsort von Siegfried Lenz. Doch bevorzugt autobiografisch lässt sich „Der Überläufer“ nicht lesen. Als Soldat zum Beispiel desertierte Lenz bekanntlich zwar auch, aber in Dänemark, wenige Tage vor Kriegsende, in der Nacht vom 5. auf den 6. Mai. Überhaupt gehörte es früh zu seiner Poetologie, dass die eigenen Erfahrungen erst den Filter der Erfindung durchlaufen müssen, um wirklich wahr zu werden.
Der junge Lenz probiert sich aus: Es gibt ein schönes Kapitel, in dem Lenz seinem erklärten Vorbild Hemingway huldigt, dessen Novelle „Der alte Mann und das Meer“, nur mit einem polnischen Wehrmachtssoldaten und einem riesigen Hecht als Protagonisten; es gibt viel Natursymbolik, Kafka-Anmutungen in ebenjenem Büro in der SBZ, den einen oder anderen existenzialistischen Ausflug und ebenjenes „Milchbrötchen“, das im Angesicht des sich immer wieder wandelnden Bösen von der Notwendigkeit spricht, „verseuchte Vorsätze zu revidieren, die schadhaften Stellen ausfindig zu machen und die Löcher in den Ergebnissen unserer Erkenntnis abzudichten“.
Sätze wie diese fallen umso mehr auf, je klarer, unmittelbarer Lenz ansonsten schreibt, je realistischer, lebensnäher die anderen Figuren sprechen, inklusive des polnischen Deutsches des „Langen“, der mal Schenkel, mal Zwiczosbirksi heißt. Passagenweise ist Lenz schon auf der Höhe seiner Sprache, seiner Bildkraft. Und das Jahr 1945, das, was er selbst zu der Zeit erlebte, darum wird er später immer wieder kreisen, und Proska ist der Prototyp seiner zukünftigen Helden: ein schuldig-unschuldiger Verlierer, der das Beste will. Und für den und dessen Unglück Lenz sanfte Sympathie aufbringt. Ein Mann, der gehandelt hat – und der am Ende weiß: „Es gibt kein Handeln ohne Leid.“
Siegfried Lenz: Der Überläufer. Roman. Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg 2016. 364 Seiten, 25 €. Buchvorstellung am 20.3., 18 Uhr im Deutschen Theater.
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