Siegfried Lenz im Interview: „Wartet ab! Es kommt noch was!“
Siegfried Lenz über seinen Roman „Landesbühne“, die Tücken des Alters und die Fantasie als Lebenselixier.
Herr Lenz, Sie haben einmal gesagt, jeder Autor möchte den Leser mit seinen Büchern überreden – ob er nun will oder nicht. Zu was möchten Sie den Leser mit „Landesbühne“ überreden?
Ja, das habe ich wohl gesagt. Aber es ist doch klar: Der Leser ist ein unbekanntes Wesen. Wenn er sich für ein Buch entscheidet, soll er jede nur erdenkliche Freiheit haben, seine Inhalte auf sich zu beziehen, sich womöglich damit zu vergleichen – und dann seine Schlüsse ziehen. Entschuldigen Sie, wenn ich mich gleich selbst zitiere: „Hier wird auf der Bühne dein Problem verhandelt, hier steht deine Sache zur Debatte, hier kannst du lernen, was in der weiten Welt geschieht. Gleichzeitig wirst du, wie ich hoffe, vorbereitet werden“, heißt es in dem Buch, und das sind seine Implikationen.
„Landesbühne“ spielt auf mehreren Ebenen. Eine Theatergruppe kommt für einen Auftritt in ein Gefängnis. Eine Gruppe Gefangener nutzt das, um mit dem Bus der Theaterleute zu fliehen, und spielt dann in der nächsten kleinen Stadt selbst Theater. Als Leser wartet man gespannt, wann dieser Schwindel auffliegt – was lange dauert.
Wissen Sie, ich habe beim Schreiben an den schönen englischen Begriff „double twist“ gedacht: Du stellst etwas dar, du zeigst etwas, aber du teilst dabei auch noch anderes mit. Was im Vordergrund geschieht, wirft gleichzeitig ein Licht darauf, was im Hintergrund passiert. Die Landesbühne selbst ist der Akteur, und die Geschichte der Hauptfiguren, die am Anfang und am Schluss erzählt wird, ist der Ausschnitt eines Geschehens, das wiederum auf die Landesbühne verweist.
Erst wird das Stück „Labyrinth“ gespielt, später „Warten auf Godot“, im Mittelteil sind die Gefangenen das Ensemble. Als Leser fühlt man sich selbst wie in einem Theaterstück – man weiß nie, wer die Drahtzieher des Ganzen sind.
Ich bin mit dieser Interpretation nicht nur einverstanden – ich begrüße sie außerordentlich! Zudem spielt die Psychologie des Wartens eine große Rolle
Einmal hält ein Professor einen Vortrag über die Fantasie. Er glaubt, sie helfe, „Verzweiflung zu ertragen, Hoffnungslosigkeit auszuhalten, Entbehrungen zu überwinden“. Meistern Sie damit auch Ihr Leben, im Vertrauen auf die Fantasie?
Sie sind der Leser, Sie dürfen das so sehen. In diesem Buch habe ich versucht darzustellen, wie wir die Fantasie – in der Literatur wie in der Politik – in den Dienst nehmen. In dem Vortrag des Professors geschieht das zunächst von außen: Er verweist auf die lebensrettende Funktion der Fantasie
„Lebensrettend“ klingt sehr pathetisch.
Ja, schon. Aber man darf keine Scheu davor haben, gelegentlich einen pathetischen Ausdruck zu verwenden.
Würden Sie denn das „Lebensrettende der Fantasie“ auch für sich in Anspruch nehmen wollen?
Hm, da muss ich jetzt ja wohl ganz schnell mein Leben besichtigen (lacht). Aber gut: Sie hat mir an entscheidenden Punkten sehr geholfen.
Am Schluss des Buchs fragt der Gefängnisdirektor den Professor, ob er sich in seinen Memoiren an die Fakten halten muss. Dieser antwortet, „dass in allen mir bekannten Memoiren ein Element der Erfindung nachweisbar sei“. Es ist eine überraschende Szene, sie fällt etwas heraus.
Nein, sie bot sich wie von selbst an. Wir neigen ständig dazu, Ihre Frage zuvor beweist das, unser Leben zu bilanzieren. Die Einladung, Memoiren zu schreiben, ist so eine Situation, sie hilft aus mancher Verlegenheit. Insofern ist diese Szene keine zufällige, sondern eine stringente. Mein Held sagt ja auch: „Die Wahrheit muss erfunden werden“ – zumindest dort, wo es Lücken gibt.
Das ist eine Ihrer Poetologien.
Ja. Wissen Sie, ich bin auf dem Weg in das Hotel durch die Rankestraße gekommen. Und ich dachte an die Überzeugung dieses bedeutenden Historikers, sich immer an das zu halten, was unbedingt, was wirklich gewesen ist. Welche Utopie! Und ich habe mich gefragt: Kann man das wirklich? Sich so unbedingt an die Wirklichkeit halten? Ranke in allen Ehren, aber ich muss Zweifel anmelden – ich komme aus Masuren, und in diesem Landstrich leben oft zweiflerische Menschen. Keine Frage: Man muss genau Bescheid wissen über einen Ort oder die Menschen, die dort leben, das ist die Voraussetzung jeder schriftstellerischen Arbeit. Dann aber kann man alles erfinden.
Sie gelten als Autor, der nur höchst ungern über sein Leben Auskunft gegeben hat. Wann schreiben Sie ihre Memoiren?
Teilweise habe ich das gemacht. „Ich, zum Beispiel“ ist der Versuch einer kürzeren Darstellung meines Lebens.
Das aber ist sehr lange her. Die autobiografische Skizze stammt von 1966.
Man hat früh die Neigung, sein Leben zu bilanzieren. Später wird es problematischer. Ach, ja.
Also kann man davon ausgehen, dass Sie keine Autobiografie mehr schreiben.
Nein. Alles Schreiben ist nach der tiefen Überzeugung auch meiner englischen, amerikanischen oder skandinavischen Kollegen „work in progress“. Das impliziert Nachsicht mit dem jeweiligen Resultat: Wartet ab! Es kommt noch was!
Fällt Ihnen das Schreiben mit dem Alter schwerer?
Es wird immer schwerer. Ich habe aber festgestellt, nach zwei schweren Operationen, dass die Stunden am Schreibtisch wie eine zusätzliche Therapie sind: zur Selbstbeschwichtigung. Und zur Hoffnung. Wenn man denn mit 83 noch hoffen darf. Wobei man sich fragt: Worauf? Na, vielleicht auf bessere Gehfähigkeit!
Sie haben Anfang der neunziger Jahre über das Alter geschrieben und über den Tribut, den man ihm zollen muss: „Die Fantasie versiegt, die Projektionen der Wirklichkeit misslingen, und man greift auf Erinnerungen zurück.“ Wie beurteilen Sie das jetzt?
Es misslingt so manches. Dann aber stellt sich die Frage des Neuschreibens, wofür ich mich oft entscheide. Ich habe eine Schublade voll mit Manuskripten, die mir zum Zeitpunkt des Schreibens entsprachen, jetzt aber nicht mehr. So ging es mir auch beim Wiederlesen meines ersten Buchs, „Es waren Habichte in der Luft“. Ich sollte ein Vorwort für eine Neuausgabe schreiben, und ich hatte sofort das Gefühl: Umschreiben, neu schreiben! Aber damals war ich 23 Jahre alt! Ich habe dann um Nachsicht gebeten, um Rabatt. Denn das konnte ich dem jungen Mann, der ich damals war, nicht antun. Lass es so stehen, mit allem Vorbehalt!
Es gibt von Ihnen einen Aufsatzband mit „Mutmaßungen über die Zukunft der Literatur“. Wie sehen Sie diese Zukunft heute, im Zeitalter der E-Books?
Ich kann nur sagen: Nichts ist so beständig wie der Wechsel, auch von Argumenten, und das finde ich gut so. Außerdem stehe ich auf dem Standpunkt, und das habe ich damals auch geschrieben, dass Literatur immer nur für eine Minorität gedacht ist – und dass das noch nie anders war. Wissen Sie, wenn man Gustaf Gründgens, dem großen Theatermann, vorhielt, er hätte diesen großen Schauspieler oder jenen großen Autor ignoriert, sagte er: „Halten Sie mir doch zugute: Diese Leute überspringe ich.“ Ich würde das auch für mich in Anspruch nehmen. Ich bin nicht bereit, mich anzupassen, mich zu unterwerfen. Begegnungen, Erlebnisse, Zerwürfnisse, Beschwernisse – jeden Tag versucht man, all diesen Erfahrungen eine schriftliche Fassung zu geben. Ich schreibe weiter, immer weiter.
An was schreiben Sie zur Zeit?
Ich habe einen Einakter fürs Theater geschrieben, „Die Versuchsperson“. Es hieß, das Stück wäre zu kurz, es dauert keine vierzig Minuten. Mir wurde dann ein weiterer Einakter angeraten. An dem sitze ich gerade.
Planen Sie noch ein Erinnerungsbuch?
Ich reserviere mir so einiges. Und ich vertraue darauf, dass mir noch möglichst viel Zeit bleibt. Ich nehme an, dass das tatsächlich mein nächstes Projekt ist, mit allen denkbaren Indiskretionen.
Das Gespräch führte Gerrit Bartels.
Siegfried Lenz, 1926 im ostpreußischen Lyck geboren, zählt seit seinem Debütroman „Es waren Habichte in der Luft“ zu den bedeutendsten und meistgelesenen Schriftstellern der Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Er lebt in Hamburg und auf der dänischen Insel Fünen. Am Mittwoch erscheint sein Roman „Landesbühne“, der wie alle Bücher von Siegfried Lenz im Hamburger Hoffmann und Campe Verlag publiziert wird (120 S., 14,90 €). Lenz trat am Samstag beim Internationalen Literaturfestival in Berlin auf, das am Sonntag zu Ende ging. Vorher hatte er im Hotel Brandenburger Hof Pfeife rauchend Rede und Antwort gestanden – auf einen Stock gestützt und begleitet von seiner dänischen Lebensgefährtin Ulla Reimer.
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