Zum 100. von JFK: Der überhöhte Präsident
Vor 100 Jahren wurde John F. Kennedy geboren. Außenpolitische Erfolge oder Reformen? Fehlanzeige. Und doch gilt er als einer der Großen im Weißen Haus. Inspektion eines Mythos.
Es ist der Stoff, aus dem moderne Mythen sind. Griesgrämige alte Männer, die auf dem Status quo beharren und in der Außenpolitik schnell nach dem Militär rufen, müssen gehen. Ein junger Held mit attraktiver Frau kommt an die Macht. Die Sehnsucht nach Wandel und Aufbruch ergreift die Gesellschaft. Neue Musikstile und lockerere Umgangsformen setzen sich durch. Grenzen fallen. Selbst mit Gegnern kann man sich verständigen.
Diese Modernisierungssaga – jugendlicher Elan schlägt Erfahrung; Generationswechsel als Bedingung für Fortschritt – haben Barack Obama 2008 und Emmanuel Macron 2017 erfolgreich genutzt. Eine Stippvisite des nun 55-jährigen Obama beim Kirchentag genügt als Kontrast zum Auftreten des 70-jährigen Nachfolgers Donald Trump, um die Anziehungskraft der Erzählung zu erneuern. Ihr Urtypus in der modernen Geschichte aber ist John F. Kennedy. Er wurde vor hundert Jahren geboren – am 29. Mai 1917 – und 1960 zum Präsidenten gewählt, im Alter von nur 43 Jahren.
Der Mythos wirkt bis heute, auch wenn die Fakten ihn nur bedingt stützen. Sein Einzug ins Weiße Haus ist ein Epochenwechsel in Politik, Stil und Kommunikation. Vorgänger Dwight Eisenhower war 70, ein Ex-General. Nun folgen JFK und seine 31-jährige Frau Jackie. Mit ihrer Vorliebe für Pariser Mode wird sie zur Stilikone. Sie öffnet das Weiße Haus für Besucher. Sie verwandelt die Fassade der Macht in das Heim einer Familie. Illustrierte druckten nun Bilder aus dem Oval Office, auf denen die dreijährige Caroline unter dem Schreibtisch des Präsidenten krabbelt; auf anderen trägt das First Couple ein Baby auf dem Arm: den kurz nach der Wahl geboren John F. junior.
Politik ist nicht mehr das Privileg ergrauter Männer. Eine junge Familie mit kleinen Kindern wird zum Gesicht der Regierung. Auch in Deutschland verstärken die Bilder die Sehnsucht nach Wandel. In Bonn regiert der 84-jährige Konrad Adenauer. Hohe Politik verbindet sich noch mit Gehrock und Zylinder. Hier lässt der Generationswechsel zu Willy Brandt noch fast ein Jahrzehnt auf sich warten.
Am 22. November 1963 wird Kennedy in Dallas erschossen
US-Soldaten hatten da bereits mit Jazz, Nylons, Kaugummi und Zigaretten den Glauben begründet, dass die Zukunft aus den coolen USA kommt. Nun verstärkten Rock ’n’ Roll und Popmusik die Hoffnung.
„Frag nicht, was dein Land für dich tun kann – frag, was du für dein Land tun kannst!“ In der Rede zum Amtsantritt fordert Kennedy einen dienenden Idealismus. Die Strahlkraft der USA soll sich nicht allein auf Militärmacht und Wirtschaftskraft stützen. Hunderttausende Jugendliche ziehen mit dem „Peace Corps“ als Entwicklungshelfer in die Welt.
In vielen Bereichen eröffnen sich Aussichten, dass Barrieren fallen. Im Mai 1961 verkündet der junge Präsident den Plan, noch in diesem Jahrzehnt Menschen auf den Mond und zurück zu bringen. Nicht einmal der Himmel setzt dem Ehrgeiz mehr Grenzen. In den Südstaaten rumort die schwarze Bürgerrechtsbewegung, angeführt von ähnlich charismatischen Figuren wie JFK, voran der damals 32 Jahre junge Martin Luther King.
Kennedy zieht die Autorität der Generäle in Zweifel. Das Volk mag in den Siegern des Weltkriegs die „Greatest Generation“ sehen. Er hat viele Militärführer als „unfähige Bürokraten“ erlebt. Die gescheiterte Invasion in der „Schweinebucht“ zum Sturz der kommunistischen Führung unter Fidel Castro auf Kuba im April 1961 verstärkt sein Misstrauen gegen die Geheimdienste und das Militär. Im Umgang mit den Krisen in Berlin und Kuba setzt er auf Diplomatie und geheime Gesprächskanäle zu den Sowjets. Auch das befördert seine Popularität.
Viele Menschen haben Angst, dass ein regionaler Konflikt zum Atomkrieg eskalieren könne. Die beiden Supermächte grenzen ihre Einflusszonen ab. Kennedy nimmt den Mauerbau in Berlin hin. Durch die Formulierung seiner drei „Essentials“ – Recht auf Anwesenheit der US-Truppen in Berlin, Recht auf freie Zufahrtswege und Recht der West-Berliner auf Selbstbestimmung – signalisiert er, dass die USA nicht einschreiten werden. Amerikanische und sowjetische Panzer stehen sich am Checkpoint Charlie martialisch gegenüber. Umgekehrt zwingt er Moskau in der Kubakrise 1962 zum Verzicht auf die Stationierung sowjetischer Raketen dort. Auch hier fahren die Kriegsschiffe bedrohlich lange aufeinander zu.
„Ich bin ein Berliner“, sagte er - und an seiner Seite stand: Willy Brandt
Am 22. November 1963 wird Kennedy in Dallas erschossen. Nach nur 1036 Tagen im Amt. Ohne greifbare Erfolge zu hinterlassen, zum Beispiel innenpolitische Reformen oder einen außenpolitischen Vertrag. Die Bürgerrechtsbewegung hat er lau unterstützt. Die Sowjets hat er nicht zurückgedrängt, in Berlin eine Vertiefung der Teilung zugelassen, auf Kuba nur den Status quo verteidigt.
Wie kann ein Mann mit dieser Bilanz einen Mythos begründen? Und immer wieder zu den großen Präsidenten der USA gezählt werden? Diese Neigung ist in Deutschland freilich größer als in Amerika. In den Umfrage-Rankings, wen die US-Bürger als herausragende Präsidenten betrachten, rangiert Kennedy meist auf den Plätzen zehn bis 15. Die Nummer eins ist Abraham Lincoln, gefolgt von George Washington und Franklin D. Roosevelt. Die beste Bewertung in den USA, Platz sechs, erreicht JFK 2009: das Jahr, in dem erneut ein junger Präsident ins Weiße Haus einzieht, den die Aura eines Popstars umgibt und der Hoffnungen auf ein neues Zeitalter weckt: eine Ära, in der die Hautfarbe keine Rolle mehr spielt. Barack Obama nannte man damals gelegentlich einen „schwarzen Kennedy“.
Als JFK aufwächst, ist schwer vorstellbar, dass ein Katholik Präsident wird. Deren Loyalität, so der Argwohn damals, gehöre eher dem Papst als dem Vaterland. Als Obama groß wird, sind Schwarze keine Anwärter aufs Weiße Haus. Angeblich unüberwindbare Hürden entwickeln in der Politik aber ihre eigene Dialektik. Wenn die Zeit reif ist, wird der Ehrgeiz, das Unwahrscheinliche zu erreichen, zu einer zusätzlichen Triebkraft. Neue Medien helfen: bei Kennedy das Fernsehen, in der entscheidenden TV-Debatte gegen Nixon; bei Obama das Internet.
Bei den Deutschen steht Kennedy im Ansehen höher. Wer spricht hier von Lincoln, Washington oder Roosevelt? Manche vielleicht von Reagan, viele von Obama. Nur Kennedy hat ein eigenes Museum in Berlin. Dabei wird auch in Deutschland am Glanzbild immer wieder gekratzt. Kurz vor dem runden Geburtstag widmet der Boulevard JFK eine Serie, die seine Schwächen herausstellt: Mit wem er alles fremdging: von Marilyn Monroe über viele, meist blonde US-Filmstars und Marlene Dietrich bis zu Callgirl Ellen Rometsch, angeblich eine Spionin der Stasi. Und welche Medikamentencocktails er zu sich nahm, um seine chronischen Rückenschmerzen und die Addison-Krankheit zu ertragen. Die Entzauberung findet freilich nur Aufmerksamkeit, weil der Kennedy-Mythos eine eingeführte Größe ist. Dem kann ein bisschen Schmutz wenig anhaben.
Ein Mythos lebt von den Projektionsflächen, die er bietet. In Kennedys Fall folgt er in den USA einerseits der „Camelot“-Erzählung, die Witwe Jackie Kennedy in Interviews propagiert. Sie vergleicht Leben und Regieren ihres Mannes mit der Saga von König Artus und seiner Tafelrunde. Andererseits wird er mit jedem Schicksalsschlag neu belebt, der die Familie der Reichen und Schönen trifft: die Morde an JFK und seinem jüngeren Bruder Robert, als der sich um die Präsidentschaft bewirbt. Der Tumor, an dem der jüngste der drei Brüder, Ted, 2009 stirbt. Der Flugzeugabsturz, bei dem John F. junior 1999 ums Leben kommt.
Der Berliner Kennedy-Mythos ist anders. In einer Epoche, in der der Westteil an seiner Existenz zweifelt und die Mauer die Stadt scheinbar endgültig spaltet, kommt Kennedy wie ein Märchenritter, macht Mut, weckt neue Zuversicht. „Ich bin ein Berliner.“ An seiner Seite steht Willy Brandt, der selbst zum Hoffnungsträger werden und Deutschlands alte Männer von der Macht vertreiben wird. Von Kennedys Aufruf zur Selbstbehauptung über Brandts Ostpolitik führt der Weg zum Mauerfall. Berlin hat sich zum Teil des Kennedy-Mythos gemacht.