Die Kandidaten der Berliner Philharmoniker (2): Der sympathische Musikant
Am 11. Mai wählen die Berliner Philharmoniker ihren neuen Chefdirigenten. Bis dahin stellen wir täglich einen der Kandidaten für den begehrtesten Posten der Klassikwelt vor. Heute: Andris Nelsons.
Trotz seines – für Maestri – jugendlichen Alters von 36 Jahren ist Andris Nelsons kein Shootingstar. Er hat eben nur sehr früh angefangen. Mit 24 wurde er Opernchef in seiner Heimatstadt Riga, an jenem Haus, in dem er als Sohn einer Musikerfamilie quasi seine Kindheit verbracht hatte. Musikantisch im positivsten Wortsinn ist der sympathische Lette, beim Dirigieren scheinen die Töne wirklich durch seinen ganzen Körper hindurchzugehen, bevor sie sich in einer sehr lebendigen Gestik manifestieren.
Im Musiktheater hat er sich gleich die ganz großen Sachen zugetraut. Was das sinfonische Repertoire betrifft, war er vorsichtiger: Er wählte eine kluge Doppelstrategie, indem er sich von einem Provinzorchester engagieren ließ, von der Nordwestdeutschen Philharmonie im ostwestfälischen Herford nämlich, wo er so manches Stück zunächst jenseits des Rampenlichts ausprobieren konnte, bevor er es bei seinen Debüts in den Musikmetropolen aufführte.
Seit 2010 ist er regelmäßig zu Gast in der Berliner Philharmonie und konnte mit seinen Interpretationen fast immer für sich einnehmen. Nur im vergangenen Jahr schien er überarbeitet, hatte sich wohl zu viel zugemutet, nicht oft genug Nein gesagt – was zweifellos auch schwerfällt, wenn man beispielsweise gebeten wird, den verstorbenen Claudio Abbado beim Lucerne Festival Orchester zu ersetzen. Bei seinem Berlin-Auftritt Mitte April aber war Andris Nelsons gedanklich wieder ganz bei sich. Dass er 25 Kilo abgenommen hat, ließ ihn auch in seinem Bewegungsdrang freier wirken. Seit Herbst 2014 ist er Musical Director des Boston Symphony Orchestra – doch der Vertrag wurde zunächst nur mit einer Laufzeit bis Sommer 2019 geschlossen. Wenn sich die Berliner am 11. Mai entscheiden, dass sie mit Andris Nelsons in die Zukunft gehen wollen, sollte es ihnen nicht schwerfallen, nach Rattles Abschied eine Saison lang auf ihn zu warten.
Bisher erschienen: Christian Thielemann