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Liegt gut in der Kurve. Der lettische Dirigent Andris Nelsons.
© Marco Borggreve

Chefdirigat der Berliner Philharmoniker: Der Florettfechter

Wer wird der Nachfolger von Simon Rattle? Der Lette Andris Nelsons gilt als einer der Favoriten und bewirbt sich mit einer stürmisch bewegten Fünften Sinfonie von Gustav Mahler um den Traumjob.

Ist das jetzt ein bedeutsames Zeichen oder Zufall? 19 Tage lagen einst zwischen dem letzten Dirigat von Simon Rattle als Gast der Berliner Philharmoniker und seiner Wahl zu ihrem Musikchef. Und exakt 19 Tage sind es auch jetzt wieder, die Andris Nelsons Auftritt mit dem Orchester von der Entscheidung über Rattles Nachfolger trennen. Für sein Antrittskonzert im Herbst 2002 wählte der Brite Gustav Mahlers Fünfte, die mit dem berühmten „Adagietto“, das Visconti in seiner Verfilmung des „Tod in Venedig“ verwendete. Eben jene Sinfonie steht nun auf dem Programm des 1978 geborenen Letten, der seit 2010 in der Philharmonie gastiert und als einer der Favoriten gilt beim Rennen um den Berliner Traumjob.

Nebenjobs sind für den Chefdirigenten tabu

Genau genommen wäre er sogar die Idealbesetzung. Denn Daniel Barenboim und Mariss Jansons, die beiden Weltstars auf der Shortlist, werden 2018, wenn der Wechsel ansteht, 75 Jahre sein, wenn man ehrlich ist, also eigentlich zu alt für den Posten. Gustavo Dudamel, der Wunderknabe aus Venezuela, hat sich selber aus dem Rennen genommen, als er jüngst seinen Vertrag mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra bis 2022 verlängerte. Denn bei den Berliner Philharmonikern gilt die eiserne Regel: Unsere Chefs haben keine Zweitjobs. Christian Thielemann schließlich, der echte Berliner unter den möglichen Rattle-Erben, polarisiert derart durch seine ästhetischen und politischen Ansichten, dass die Vorstellung schwerfällt, er könne die Mehrheit der Musiker hinter sich versammeln.

Also Andris Nelsons? Er stammt aus einer Künstlerfamilie, ist quasi im Opernhaus von Riga aufgewachsen, dessen Musikdirektor er im zarten Alter von 25 Jahren wurde. Außerdem ist er ein ausgebildeter Instrumentalist, hatte sein erstes Engagement als Trompeter. Darum kann er sich perfekt einfühlen in Hakan Hardenberger, der am Donnerstag HK Grubers 1999 entstandenes Trompetenkonzert „Aerial“ spielt. Ein Stück, das undankbar beginnt für den Solisten, weil er zunächst jede Menge unsauberer Töne produzieren muss. Anschließend bläst Hardenberger auf einem Kuhhorn, während das Orchester weiterhin einen loungigen Clubsound produziert. Dann aber darf er glänzen, und auch Andris Nelsons beginnt auf dem Pult zu tanzen. „West Side Story“-Stimmung kommt auf. Sehr viel Aufwand wird da mit einer rund 100-köpfigen Besetzung getrieben für ein wenig lässige Unterhaltung. Mit diesem Trompeter und einer Jazz-Combo hätte man sicher genauso viel Spaß.

Er duckt sich weg, schnellt hoch und reißt die Arme empor

Aber das luftige Werk erlaubt es, Nelsons bei der Arbeit zu beobachten: Sehr physisch ist seine Art, die Musik will bei ihm durch den ganzen Körper hindurch. Blicke und Gesten reichen da nicht aus, er gleicht einem Florettfechter, will überall gleichzeitig sein, den Instrumentalisten ganz nahe kommen, auch den hinten sitzenden Bläsern. Er duckt sich hinterm Pult weg, schnellt wieder hoch, legt sich mit dem Orchester in die Kurve, reißt beide Arme gleichzeitig nach oben. Dabei bleibt seine Schlagtechnik deutlich, souverän überblickt er komplexe Strukturen, leitet die orchestralen Massen auch in der Mahler-Sinfonie sicher durch die fünf monumentalen Sätze.

Opernhaft klingt der Beginn der Fünften: Pierre Boulez’ Diktum, Mahler komponiere Gesten, die keine Geschichten erzählen, wird fasslich. In den Piano-Passagen wiederum vermag Andris Nelsons eine ganz eigene Atmosphäre zu schaffen, verschattet, sehr privat, von Wienerischer Melancholie. Der zweite Satz ist „stürmisch bewegt“, wie es die Partitur vorschreibt, doch nicht im Sinne eines nächtlichen Unwetters auf hoher See. Spannend ist, wie durchhörbar des Stimmengewebe bleibt, wie in helles Licht getaucht. Den Mittelsatz prägen Eleganz und Walzerschwung, das Adagietto ist schlicht, aber ergreifend, eine reine Feier der Schönheit und des phänomenalen philharmonischen Streicherklangs. Diese Fünfte, so wie Nelsons sie sieht, erzählt von einer freundlichen Natur, selbst die gelehrten Fugati im Finale atmen heitere Leichtigkeit.

Lust auf mehr; mehr Beethoven, mehr Schumann, mehr Debussy

Im anschließenden Jubelsturm wendet sich der Dirigent lange ans Orchester, lässt erst den Solo-Trompeter Tamas Velenczei aufstehen, dann den Solo-Hornisten Stefan Dohr, bedankt sich beim Konzertmeisterpult, bevor er schließlich ins Publikum blickt, mit kleinen, bescheidenen Verbeugungen für die Ovationen dankt. Ein elementares Ereignis, ein prägendes Erlebnis wie bei den Mahler-Aufführungen des späten Claudio Abbado ist dieser Abend nicht. Aber er gibt klare Antworten auf entscheidende Fragen: Hat Andris Nelsons das Entwicklungspotenzial für die Chefposition? Macht er neugierig auf mehr? Will man von ihm einen Beethoven-Zyklus hören, Schumann, Debussy und russisches Repertoire? Ja, ja und ja.

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