zum Hauptinhalt
Der später zum Tode verurteilte NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann (2.v.l) steht während seiner Vernehmung am ersten Prozesstag vor dem Bezirksgericht in Jerusalem (Archivfoto vom 11.04.1961).
© dpa

Das Gnadengesuch von Adolf Eichmann: Ein Dokument des Leugnens - und der Erinnerung

Israel hat an diesem Mittwoch, dem Holocaust-Gedenktag, Adolf Eichmanns Gnadengesuch aus dem Jahr 1962 veröffentlicht. Was bedeutet das? Fragen und Antworten zum Thema.

Er sei immer lediglich ein Instrument des Nazi-Regimes gewesen. Ein kleines Rad im großen Getriebe einer Mordmaschinerie. Einer, der unter Zwang gehandelt und nur Befehle befolgt habe. Doch Adolf Eichmann war alles andere als ein kleiner Helfer. Der SS-Obersturmbannführer, geboren 1906 in Solingen, zählte zu den Hauptorganisatoren des Holocaust. Er hat im Reichssicherheitshauptamt die Vertreibung und Deportation von Millionen Juden in die Vernichtungslager koordiniert. Nach dem Zweiten Weltkrieg floh Eichmann nach Argentinien. 1960 entführte ihn der Mossad nach Israel, wo er in einem aufsehenerregenden Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Bis zuletzt hatte Eichmann immer wieder versucht, seine Exekution im Gefängnis von Ramle nahe Tel Aviv zu verhindern. Das geht auch aus einem jetzt veröffentlichten Brief hervor.

Was steht in dem Gnadengesuch?

Zwei Tage vor seiner Hinrichtung wandte sich Eichmann in Form eines handschriftlichen Briefes an den damaligen zweiten Staatschef Israels, Jitzchak Ben Zwi, und bat um Begnadigung (siehe die nebenstehende offizielle Abschrift). In dem dreiseitigen Schreiben, das auf den 29. Mai 1962 datiert ist, versuchte der SS-Mann seine Verantwortung herunterzuspielen und die Hinrichtung zu verhindern.

Auf Deutsch bittet Eichmann den Präsidenten, „von seinem Gnadenrecht Gebrauch zu machen und anzuordnen, dass das Todesurteil nicht vollstreckt wird“. Den Richtern sei ein entscheidender Irrtum unterlaufen. Es hätten nur einzelne Urkunden in seinem Verfahren vorgelegen, die ohne Zusammenhang mit anderem Material ein falsches Bild ergeben hätten.

Neben Eichmann selbst wandten sich auch seine Frau und seine Geschwister mit einem Gnadenappell an den israelischen Präsidenten. Das Schicksal ihres Mannes liege in seiner Hand, schrieb Vera Eichmann in einem Telegramm an Ben Zwi. „Als Frau und Mutter von vier Kindern bitte ich eure Excellenz um das Leben meines Mannes.“ (Die am Mittwoch veröffentlichten handschriftlichen Originaldokumente wie auch die offiziellen Abschriften finden Sie hier.)

Das Gnadengesuch des Organisators der Judenvernichtung, Adolf Eichmann, mit dem er sich nach dem Todesurteil vor dem Galgen retten wollte.
Das Gnadengesuch des Organisators der Judenvernichtung, Adolf Eichmann, mit dem er sich nach dem Todesurteil vor dem Galgen retten wollte.
© promo

Wie argumentiert Eichmann?

Der Nazi-Scherge bedient sich eines typischen Täter-Arguments: Er stellt sich selbst als Opfer dar. „Ich war kein verantwortlicher Führer und fühle mich daher nicht schuldig“, schreibt er in dem Brief. Gleichzeitig verweist Eichmann perfiderweise auf sein Mitgefühl: „Es ist auch nicht richtig, dass ich mich niemals von menschlichen Gefühlen hätte beeinflussen lassen. Ich habe gerade unter dem Eindruck der erlebten unerhörten Greuel, sofort um meine Versetzung gebeten.“

Warum hat Israels Präsident das Gnadengesuch damals abgelehnt?

Den Antwortbrief auf das Gnadengesuch schickte Staatschef Ben Zwi damals nicht an Eichmann direkt, sondern an den damaligen Justizminister. Ben Zwis Begründung fiel sehr knapp aus: Er habe sich alles zur Verfügung stehende Material angeschaut und sei zu der Schlussfolgerung gekommen, dass es keine Rechtfertigung für eine Begnadigung gebe, auch nicht für eine Milderung der Strafe, die das Jerusalemer Amtsgericht am 15. Dezember 1961 verhängt und der Oberste Gerichtshof am 29. Mai 1962 bestätigt hatte. Eichmann, der in 15 Anklagepunkten schuldig gesprochen worden war – unter anderem wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen – starb schließlich in der Nacht zum 31. Mai durch den Strang. Er war das erste und bisher einzige Mal, dass in Israel die Todesstrafe vollstreckt wurde.

Wie ist das Dokument aufgetaucht?

Dass Eichmanns Brief ausgerechnet kurz vor dem Holocaust-Gedenktag entdeckt wurde, sei reiner Zufall, heißt es aus dem Büro von Israels heutigem Staatschef Reuven Rivlin. Bei der Digitalisierung des Archivs seien Mitarbeiter der Rechtsabteilung vor wenigen Tagen auf das Dokument gestoßen. Dass es ein Gnadengesuch Eichmanns gab, war zwar bereits bekannt – nicht aber, dass sich das handschriftliche Dokument in den Archiven des Präsidenten befindet.

Ändert das Schreiben etwas an der Beurteilung der Rolle Eichmanns?

Nein, da sind sich die Historiker einig. Eichmann hatte stets betont – wie andere NS-Täter auch – er habe nur Befehle befolgt und sei damit unschuldig. Die Verantwortung für den Holocaust trage allein die Nazi-Führung. Es existieren jedoch auch Zeugnisse, die belegen, dass sich Eichmann seiner Beteiligung am Völkermord brüstete. Darauf verweist Andreas Nachama. Eichmanns Bedeutung beschreibt der Direktor der „Topographie des Terrors“ in Berlin denn auch so: „Das große Getriebe läuft nur, wenn die kleinen Rädchen ihm Schwung geben.“ Dem Protokollführer der berüchtigten „Wannseekonferenz“ zur „Endlösung der Judenfrage“ (1942) unterstand die Koordination aller Transporte, er achtete auf die Einhaltung der Fahrpläne und darauf, dass die Eisenbahnzüge ausgelastet waren, die die Menschen in die Ghettos und Konzentrationslager transportierten.

Welchen Stellenwert hat die Erinnerung an den Holocaust heute in Israel?

„Die Erinnerung an die Schoa aufrechtzuerhalten, ist heute wichtiger denn je“, sagte Israels Premier Benjamin Netanjahu am Mittwoch anlässlich des Holocaust-Gedenktags und verwies auf den wiedererstarkenden, manchmal auch gewalttätigen Antisemitismus. „Gedenkfeiern wie diese erinnern uns alle, wohin der älteste und beständigste Hass führen kann.“ Auch wenn im jüdischen Staat immer wieder befürchtet wird, dass mit dem Tod der letzten Holocaustüberlebenden in den nächsten Jahren auch die Erinnerung an den Völkermord verschwinden könnte, so ist dieser doch bisher noch sehr präsent.

Israel begeht seit 1951 jedes Jahr seinen eigenen Holocaust-Gedenktag, den Yom Haschoa, der sich nach dem jüdischen Kalender richtet. Doch erst der Eichmann-Prozess zehn Jahre später führte dazu, dass sich die israelische Gesellschaft mit der Vergangenheit, den Gräueltaten der Nazis, den Erlebnissen der Überlebenden und der Erinnerungskultur beschäftigte. „In den ersten Jahren nach der Schoa waren die Menschen in Israel zu sehr damit beschäftigt, einen unabhängigen Staat zu gründen und aufzubauen. Das Trauma war zu nah, die Gefahr der Vernichtung zu greifbar“, sagte Präsident Reuven Rivlin bei einer Veranstaltung zum Holocaust-Gedenktag. Heute ist es in Israel selbstverständlich, dass Überlebende ihre Geschichten erzählen und israelische Politiker immer wieder an die Ermordung von sechs Millionen Juden erinnern und vor Judenhass in der heutigen Zeit warnen. Allerdings leben zehntausende Holocaustopfer in Israel unter der Armutsgrenze.

Welche Rolle spielte der Eichmann-Prozess für die spätere Verfolgung der NS-Täter?

Eine sehr wichtige. Nach den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen war die Verhandlung in Jerusalem das erste öffentlichkeitswirksame Verfahren gegen einen Verantwortlichen aus dem NS-Apparat. Der Prozess wurde im Radio und im Fernsehen übertragen, das weltweite Interesse war enorm. Hannah Arendt beschrieb ihre Eindrücke aus dem Gerichtssaal in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ und prägte den umstrittenen Begriff von der „Banalität des Bösen“. Auch in der Bundesrepublik weckte der Prozess gegen Eichmann ein größeres Interesse an der Aufklärung der NS-Verbrechen: Die Zahl der Anklagen stieg in Westdeutschland deutlich. Auch weil der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer alles daran setzte, die Täter zu bestrafen. Gegen immensen Widerstand („Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, betrete ich feindliches Ausland“) setzte er später die Auschwitz-Prozesse in Gang.

Welche NS-Prozesse sind heute noch in Deutschland anhängig?

Fast 71 Jahre nach Kriegsende ist die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen in Deutschland keineswegs abgeschlossen. Vier deutsche Gerichte befassen sich derzeit mit dem Massenmord in Auschwitz. Vier ehemalige Angehörige des SS-Personals sind der Beihilfe zum Mord angeklagt. In Detmold muss sich ab Februar ein ehemaliger SS-Wachmann vor Gericht verantworten. Ende Februar beginnt in Neubrandenburg ein Prozess gegen einen früheren SS-Sanitäter. Ein weiterer Ex-Wachmann und eine Frau, die als Funkerin in der Kommandantur gearbeitet hat, sind ebenfalls angeklagt.

Zur Startseite