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Ich bin, was Ihr seht. Jamie Bell spielt in "Skin" einen amerikanischen Neonazi, der aus der Szene aussteigt.
© Berlinale

Jamie Bell auf der Berlinale: Der Junge tanzt nicht mehr

Jamie Bell wurde als „Billy Elliot“ zum Star und verschwand danach in Nebenrollen. Im Berlinale-Beitrag „Skin“ steht er nun wieder im Mittelpunkt.

Ein Mann, kahlgeschoren, liegt auf einer Pritsche und hadert mit seinem Hass. Er stöhnt und zuckt, während Stromstöße ihm unter die Haut fahren. So beginnt „Skin“, Guy Nattivs Panorama-Beitrag über einen amerikanischen Neonazi. Was der von der Welt hält, hat er sich auf seinen Körper tätowiert und ins Gesicht ritzen lassen. Die Botschaft: Ich bin, was ihr seht. Es soll endgültig sein. Wie der Tod.

Als der echte Bryon Widner aus der Szene aussteigen wollte, wurde das in vielerlei Hinsicht ein schmerzhafter Prozess. Er verriet sein Umfeld an das FBI, tauchte ab und unterzog sich einer langwierigen Prozedur, um mit den Zeichen auf seiner Haut auch seine frühere Identität auszulöschen. Sie wurde ihm gewissermaßen aus dem Leib gebrannt.

Klar, dass ein Film über ein solches "menschliches Monster", wie Guy Nattiv es formuliert, nicht im Sommer spielen kann. Doch die sonnenlose Winterlandschaft, die Nattiv für sein Aussteigerdrama im mittleren Westen der USA gefunden hat, tendiert stark ins Apokalyptische. Die Bäume sind kahle, schwarze Gerippe in einer formlos vereisten Welt. White-Trash-Familien hausen in heruntergekommenen Baracken. Die Neonazis, die ein sektiererischer Glaube an die eigene Härte zusammenschweißt, führen sich wie Schlägertrupps auf. Überfallen die Lokale der Schwarzen, zünden Moscheen an.

Die Hauptfigur befindet sich in einer Art Winterschlaf, verkrochen in ihrer seelischen Höhle, die allmählich einstürzt, bis am Ende ihrer Verwandlung der Sommer anbricht. Sie steht der Frau gegenüber, die ihn verstoßen hat, bittet um Einlass, und im Hintergrund ist das Laub an den Bäumen zu sehen, Vögel zwitschern.

Hinter der Maske

Da erst erkennt man, wer sich hinter der Maske verbirgt: Jamie Bell, der nette Bursche aus "Billy Elliot". Sein Auftritt ist die erste Hauptrolle seit "Hallam Foe" (2007) in einem ganz auf ihn zugeschnittenen Film. "Jeder hat ,Billy Elliot‘ im Kopf", sagt Regisseur Nattiv über seine erste Begegnung mit dem früheren Kinderstar, „doch ich hatte einen Mann vor mir, der eine dunkle Seite an sich entdecken wollte. Er sagte mir, dass er eine Scheißangst vor der Rolle hätte, was ich nur richtig fand.“

Jamie Bell ist ein unprätentiöser Schauspieler. Was umso erstaunlicher ist, da er mit 14 als "Billy Elliot" weltberühmt wurde. Gelegentlich wird er als neuer James Bond ins Spiel gebracht.
Jamie Bell ist ein unprätentiöser Schauspieler. Was umso erstaunlicher ist, da er mit 14 als "Billy Elliot" weltberühmt wurde. Gelegentlich wird er als neuer James Bond ins Spiel gebracht.
© imago/ZUMA Press

In den fast zwei Jahrzehnten, die seit seinem Filmdebüt als Ballett tanzender Arbeiterjunge vergangen sind, hat Bell sich auf unscheinbare Nebenrollen verlegt. Er spielte Allerweltstypen mit einem Kindergesicht, denen der Soldatenhelm zu groß war, die Waffe in der Hand zu schwer, die elternlos und verwaist auf der Suche nach Antworten waren, ohne die passenden Fragen zu kennen. So stand seine Karriere lange unter dem Schatten einer „bleibenden Kindheit“, wie Bell es ausdrückt. Unter den Augen von Größen wie Steven Spielberg, Clint Eastwood und Peter Jackson wurde der Junge aus Billingham langsam erwachsen. „Vor zehn Jahren hätte ich einen Kerl wie Bryon Widner nicht spielen können", sagt er.

Den kleinen Tisch in einer Nische des Pressezentrums der Berlinale steuert er mit einem halb ausgetrunkenen Weizenbier an. Anders sei das alles nicht zu ertragen, sagt der 34-Jährige und ist sofort bei der Sache. Er kennt seinen Stellenwert offenbar genau, und es bereitet ihm Vergnügen, ohne jede Umschweife über den Bogen zu reden, den seine Karriere vom 14-jährigen Ballett-Tänzer über zahlreiche Nebenrollen wieder an den Punkt geführt hat, da er allein im Mittelpunkt steht. Das Bierglas fasst er für die Dauer des Gesprächs nicht mehr an.

Nattivs erste US-Produktion

„Natürlich entstand aus dem einen Film, den ich als Kind gedreht hatte, der Wunsch zu zeigen, dass ich mich entwickelte und erwachsener wurde", sagt Bell mit seiner rauen, verbindlichen Stimme. "In diesem Fall lockte mich,. dass ich vollkommen anders aussehen, mich anders würde bewegen müssen. Aber vor allem, dass niemand auf diesen Film warten würde.“

„Skin“ ist nach drei Spielfilmen in Israel Nattivs erste US-Produktion. Niemand habe sie zunächst finanzieren wollen. „Ich hörte viele Neins", sagt der elegante Filmemacher mit einem Tony-Curtis-Lächeln. Den Ausschlag gab dann ein Kurzfilm, den er über einen ähnlichen Stoff in seiner Garage drehte. Darin geht es um die Geschichte eines Mannes aus Arizona, der seinem zehnjährigen Sohn beibrachte, wie man an der Grenze Mexikaner abknallt. Eines nachts kommt er betrunken nach Hause und veranstaltet einen solchen Lärm, dass das Kind ihn für einen der Eindringlinge hält, vor denen er ihn immer gewarnt hat. Der Junge schießt dem Vater mit dessen eigener Waffe in den Kopf. Nattiv ist mit „Skin“ (dem Kurzfilm) nun für den Oscar nominiert.

Das ebnete Nattiv den Weg für die Geschichte, die er eigentlich erzählen wollte, seit er in „Haaretz“ eine Bilderfolge von Bryon Widners Wiederherstellung gesehen hatte. Die Porträtfotos zeigten den Ex-Nazi in verschiedenen Stadien seiner Resozialisation.

Davon wollte Nattiv, 45 Jahre alt, geboren in Tel-Aviv, in Amerika als erstes erzählen. Sicher, es gab „American History X“ und "The Believer", aber beide Filme über den weißen Extremismus in Amerika waren in einer anderen zeit entstanden. Ende der 90er galten Neonazis noch als Außenseiter, nicht weiter beachtenswert. Doch nun ist der Rassismus außerhalb von Städten wie L.A. und New York überall anzutreffen. In Form von Südstaatenflaggen oder großformatigen Schriftzügen an Werbetafeln. der weiße Hass richtet sich gegen vieles, Schwarze, Homosexuelle, Juden und Muslime. "Für uns Juden hat es stets zwei sichere Orte auf der Welt gegeben. Israel und die USA. Doch mit der Wahl Trumps hat sich das Klima verändert. Die Rechte ist so extrem geworden. Auch in Israel ist das der Fall. Nun gibt es keinen sicheren Ort mehr.“

Eine Zigarette nach der anderen

Es gab bereits eine Fernsehdokumentation über Widner („Erasing Hate“), als Nattiv sich an ihn wandte. In der Mail erwähnte er seinen jüdischen Großvater, einen Holocaustüberlebenden, der ohne Grimm weitergelebt hatte. Sie trafen sich in Albuquerque, New Mexico. Und sie überzeugten einander. Schließlich trat der Nazi-Aussteiger dem Filmemacher die Rechte an seiner Lebensgeschichte auf einer Serviette ab. Viereinhalb Jahre brauchte Nattiv für das Skript. Unter Widners Anleitung. "Ich hatte ja keine Ahnung", erzählt er, "wie die Rechtsradikalen sprechen und sich aufführen. Außerdem wusste ich nicht, was ich von preisgeben durfte, nachdem das FBI sich um ihn kümmert. Obwohl man deutlich spürt, wie sehr sich Widner zu einem besseren Menschen wandeln will, kann er den Zorn in sich nur mühsam unterdrücken. Wie ein Junkie, der jederzeit wieder draufkommen kann, wenn er schwach wird."

Aussteigen, aber wie? Der von Jamie Bell in "Skin" verkörperte Rechtsradikale muss zum Verräter werden, um rauszukommen.
Aussteigen, aber wie? Der von Jamie Bell in "Skin" verkörperte Rechtsradikale muss zum Verräter werden, um rauszukommen.
© Berlinale

Und ausgerechnet den sollte Jamie Bell verkörpern. Dessen härteste Rolle war bis dahin ein Sklave in dem Sandalen-Epos "The Eagle" gewesen. Wie gefährlich würde das für ihn selbst werden?

Bell besuchte Widner und blieb einige Tage. Sie saßen in der Garage, weil Widner dort rauchen konnte. Und er steckte sich eine Zigarette nach der anderen an. Bell bat darum, das Garagentor hochfahren zu dürfen. Aber Widner meinte, das sei keine gute Idee. Er wolle nicht erschossen werden.

Das gab Bell eine Ahnung davon, worauf er sich einließ. Aber das war nicht das Schlimmste. „Ich bin nicht der Typ, der leicht vergibt", sagt er mit beiden Ellbogen auf den Tisch gebeugt. "In der Biografie meines Helden gibt es definitiv Aspekte, die ich nicht gutheißen kann. Also sagte ich ihm, dass er mich möglicherweise am Ende nicht mögen werde.“

Einer unter 2000 Kandidaten

Aber Moral ist ein schlechter Ehrgeiz in der Kunst. Man darf nicht Recht behalten wollen. Das Leben ist zu kompliziert. Und Widner hatte nicht werden wollen, was er wurde. Er geriet als Waisenkind unter den Einfluss von Zieheltern, die ihn in ihre paranoiden Nazi-Fantasien verwickelten. Er gründete eine schnell für ihre Gewaltbereitschaft berüchtigte Gang. Dann lernte er eine Frau kennen, die er nur behalten konnte, wenn er zum Verräter an der Sache wurde. Bell erkannte, dass ihn von Widners Lebenswerg gar nicht so viel trennte. "Mein Leben wäre anders verlaufen, wenn mir mit 14 Jahren nicht jemand gesagt hätte: Ich wähle dich.“

Jamie Bell war einer unter 2000 Kandidaten, die für die Rolle des proletarischen vorgesprochen hatten. Eine Ablehnung damals hätte ihn nach Billingham zurückkehren lassen, wo er mit seiner Mutter lebte. Und wer weiß, was aus dem Ballett-Jungen geworden wäre. Dem "Guardian" sagte er einmal: „Es gibt einen Grund, warum ich schwierige Charaktere spiele, aber er ist verborgen, und so mag ich es.“

Gegen den frühen Ruhm hat er sich oft mit Rollen gewehrt, in denen er unkenntlich blieb. Etwa als "Tim" in Spielbergs Adaption des Hergé-Comics. Oder als "The Thing", einem Steinwesen in "Fantastic Four". Das tätowierte Monstergesicht Bryon Widners löscht den tanzenden Jungen endgültig aus, als der Bell in Erinnerung geblieben war.

13.2., 14 Uhr (Cubix), 15.2., 22.30 Uhr (Cinemax), 16.2., 22.30 (Cubix)

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