Berlinale 2020: Der Jugendfilm „Kokon“ taucht ab ins Kreuzberger Aquarium
Der Coming-of-Age-Film „Kokon“ spielt am Kottbusser Tor. Ein Treffen mit Regisseurin Leonie Krippendorff und Hauptdarstellerin Lena Urzendowsky.
Die einen sehen nur das Kaputte. Für andere ist es Heimat oder Aufbruch in die Nacht. Für die Schauspielerin Lena Urzendowsky war das Kottbusser Tor lange Zeit nur ein U-Bahnhof, „der nach Pisse gestunken hat“, wie sie ein wenig entschuldigend zugibt.
Das hat sich geändert. Im Sommer 2018 hat die zierliche junge Frau hier den Coming-of-Age-Film „Kokon“ gedreht. Sie spielt Nora, eine 14-Jährige, die mehr beobachtet als agiert und schließlich herausfindet, wer sie ist und was sie will. An einem kalten Vormittag im Februar geht es nun zusammen mit der Regisseurin Leonie Krippendorff zurück an den Kotti.
Urspünglich sollte der Film auf dem Land spielen
Erste Station ist das Hochhaus an der Admiralstraße, dessen Balkone wie Haifischflossen hinausragen. Dort wohnt im Film Nora mit Schwester, Mutter und ihrer Raupenzüchtung. Auf einem Balkon haben sich die Mädchen ein Refugium mit Blick auf den U-Bahnhof eingerichtet, zu dem wir jetzt hochfahren. Ein Aushang im Lift informiert über ein Treffen des Mieterrats, am Flurfenster klebt ein Sticker gegen den Verkauf von Wohnungen an private Investoren. „Das ist ja so ein Flashback!“, sagt Leonie als wir den Gang zum Balkon entlanggehen.
In „Kokon“ erzählt sie davon, wie es ist, vom Mädchen zur Frau zu werden. „Für mich war das damals eine ziemlich traumatische Erfahrung.“ Dass sie die Geschichte am Kotti ansiedeln würde, hat sich allmählich ergeben, erzählt die 34- Jährige, die auch das Drehbuch geschrieben hat.
Ursprünglich sollte der Film auf dem Land spielen, aber dann wurde ihr klar, dass sie das Leben dort gar nicht kennt. Leonie Krippendorff ist in einer Wohngemeinschaft am Winterfeldplatz groß geworden. Doch schon als Kind hat es sie immer nach Kreuzberg gezogen. „Im Sommer war ich jeden Tag im Prinzenbad“, erinnert sie sich. Sie mag diese Ecke. Sie mag, dass hier so viele Kulturen miteinander leben und gleichzeitig auch eine queere Kultur existiert, was sie für die Geschichte wichtig findet. Denn in „Kokon“ geht es nicht nur ums Erwachsenwerden, sondern auch um die Liebe zwischen zwei Mädchen.
Der unwirtliche Platz ist ein geschützter Raum
Der Radius, in dem sich junge Leute bewegen, sei meist sehr eingeschränkt, findet die Filmemacherin. Auch das spricht für den Kotti als Dreh- und Angelpunkt. „Er ist ein eingeschlossenes Universum, wie ein Aquarium“. Wenn man auf dem Balkon steht, versteht man sofort, was sie meint. Von hier oben wirkt dieser unwirtlich anmutende Platz wie ein geschützter Raum mit seinen Betonbauten, die das Areal rahmen. Eine Welt tut sich auf. Man sieht das Minarett der Mevlana-Moschee, weiter hinten schwingt sich das Dach der East Side Mall über das Häusermeer und an einem Fenster neben dem Balkon winkt eine alte Dame herüber.
Man spürt, dass Leonie Krippendorff ihre Berufung gefunden hat. Während der Ausbildung zur Fotografin merkte sie, dass ihr Texte zu ihren Bildern wichtig waren. Die Aufnahme an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam hat 2009 auf Anhieb geklappt.
Ihr Abschlussfilm „Looping“ über die Beziehung von drei Frauen, die sich in einer psychiatrischen Klinik begegnen, lief 2016 beim Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken. Damals hat sie auch das erste Mal mit Jella Haase gedreht, die in „Kokon“ nun Romy spielt, die junge Frau, in die sich Lena Urzendowsky im Film „völlig hilflos verliebt“.
Lena Urzendowsky ist seit 2014 im Filmgeschäft
Wir wollen uns aufwärmen im Cafe Kotti, wo sich im Film die Jugendlichen treffen, um zu chillen, zu knutschen und Fingerkloppe zu spielen. Auf dem Weg dorthin schießt der Fotograf noch ein paar Fotos. Eine unangenehme Situation, findet Leonie Krippendorff, von der es im Gegensatz zu Lena Urzendowsky kaum Fotos im Internet gibt. Schon vor dem ersten Casting, als sie nur Bilder kannte, hatte sie das Gefühl, dass sie ihre Nora schon gefunden hatte.
Lena Urzendowsky, seit 2014 im Filmgeschäft und mit dem Grimme-Preis und dem Deutschen Schauspielpreis ausgezeichnet, spielt mit großer Eindringlichkeit. Man sieht in ihrer Nora das zarte Mädchen, das schockiert von ihrer ersten Regelblutung ist, und ahnt zugleich eine noch unentdeckte Stärke.
Bald zieht sie von Lichterfelde in ihre erste eigene Wohnung
Die Offenheit der Figur hat sie gereizt. Nur wenige Tage nach ihrem Abitur stand sie für „Kokon“ vor der Kamera. „Ich habe mich damals bei Leonie sehr aufgehoben gefühlt“. Seitdem hat Lena, jüngere Schwester des Schauspielers Sebastian Urzendowsky, in weiteren Filmen mitgewirkt, gerade sind die Dreharbeiten für die Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ zu Ende gegangen.
„Morgen werde ich 20!“, lacht sie. Sie will mit Freunden reinfeiern, dann mit der Familie essen gehen. Bald zieht sie von Lichterfelde in ihre erste eigene Wohnung. Auch sie ist nicht mehr das Mädchen von einst, findet Krippendorff.
Bei den Dreharbeiten wurde das Team auf der Straße angefeindet
Weiche Jazz-Klänge empfangen uns im Café. Es ist kuschelig, die roten Sofas laden zum Bleiben ein. Im hinteren Zimmer klebt immer noch die gelbe Folie am Fenster, die das Filmteam für eine Szene dort angebracht hat, um das Licht noch sommerlicher zu machen.
Es waren schwierige Dreharbeiten, nicht nur wegen der Hitze, die ihnen in der kleinen Wohnung schnell die Luft zum Atmen nahm. Ein Nachbar versuchte, immerzu durch Lärm zu stören. Auf der Straße wurden sie angefeindet, erschienen die Filmleute doch wie der Inbegriff der zunehmenden Gentrifizierung im Kiez. Leonie Krippendorff kann verstehen, dass sie diese Außenwirkung hatten, dabei wollte sie auch vom Kotti erzählen und hat einen Teil der Jugendlichen dort gecastet.
Dass „Kokon“ die „Generation 14plus“ eröffnet, empfinden Regisseurin wie Hauptdarstellerin als Ehre. Sie sei Fan der Sektion, sagt Krippendorff und freut sich, dass nun Menschen den Film sehen, die so alt sind wie Nora. An ihren ersten Berlinale-Besuch kann sich Lena Urzendowsky noch gut erinnern. 2011 war das. Zusammen mit ihrer besten Freundin sah sie damals den norwegischen Kinderfilm „Anne liebt Philipp“. Total begeistert war sie und heimlich wünschte sie sich, einmal als Schauspielerin am Filmfest teilnehmen zu können. Nun geht ihr Traum in Erfüllung – und der Kotti erstrahlt mitten im Februar im warmen Sommerlicht.
21.2., 19.30 Uhr (Urania), 22.2., 20.30 Uhr (HAU1), 23.2., 17 Uhr (Cubix 8), 27.2., 14 Uhr (CinemaxX 1), 1.3., 13.30 Uhr (CinemaxX 3)
Kirsten Taylor