zum Hauptinhalt
Schleef, 1944 in Sangerhausen geboren, 1976 aus der DDR in die Bundesrepublik übersiedelt, 2001 gestorben.
© akg-images / Bruni Meya

Einar Schleef zum 75. Geburtstag: Der grausame Engel

Als das Wüten noch geholfen hat: Erinnerung an den Theaterriesen Einar Schleef, dem das Hebbel am Ufer jetzt ein Festival widmet.

Dann wäre er in diesem Jahr jetzt wirklich erst 75 Jahre alt geworden, am 17. Januar? Die Zeit ist ein Täuschungsmanöver, vor dem man ständig kapituliert. Es ist also schon über 17 Jahre her, bald 18, dass Einar Schleef gegangen ist? Es war im Sommer, am 21. Juli 2001, und die meisten von uns wurden von der Nachricht mit Verspätung irgendwo auf einer Urlaubsreise erschlagen. Schleef tot.

Manchmal hat man das Gefühl, dass nach ihm das ganze Theater gestorben ist, mit Heiner Müller, der diese Woche 90 Jahre alt geworden wäre und 1995 als Erster ging, mit Jürgen Gosch, Christoph Schlingensief und Mitko Gotscheff, die nacheinander ihren Abschied nahmen. Gestorben das Theater der Riesen, die so verletzlich waren. Das Theater der gefrorenen Bilder, das im Kern ein dichterisches war, eine Sprachverständigung, ein Kampf mit Worten. Das Theater des Ostens auch, im Wesentlichen.

Die DDR hatte Schleef 1976 verlassen, nach ersten wuchtigen Arbeiten mit B. K. Tragelehn am Berliner Ensemble und der Volksbühne. Der Schriftsteller, Maler, Fotograf, Filmemacher, Schauspieler, Inszenator – alles im monomanischen Exzess – passte in kein Land hinein und auch nicht wirklich in ein Theatersystem. Es war Günther Rühle, in den Achtzigerjahren Intendant am Schauspiel Frankfurt, der Schleef eine Bühne gab. Dazu brauchte man Mut, Kraft, Durchhaltewillen. Rühle hatte das. Schleefs lange Theaterabend polarisierten extrem. Sie waren abstoßend für viele, beglückend für viele andere. Sie hatten einen langen Nachhall, das glaubte man. Nur, wie hat sich in den nicht einmal zwei Jahrzehnten nach seinem Tod auf nahezu allen Brettern so leicht eine Konsenstheaterkultur durchsetzen können?

Jenseits des Auftritts war er ein Schweiger

Sein Sangerhausen, den Geburtsort am Harz, die obsessiven Mutter- und Küchengeschichten, das mythische Kyffhäuserdeutschland: Ein riesiges „Totenreich“ trug er mit sich herum und war doch auch, in aller Brutalität, die Unschuld vom Land. Manches Bild daraus kehrt bei Jonathan Meese wieder, manche Geste, aber dabei bleibt es. Schleef ist weg. Und die Erinnerung macht es einem nicht leicht: „Wessis in Weimar“ und der „Puntila“ am BE, nach der Wende, was war das? Ein Sturm fegte durch das Haus, und der kam von innen, der steckte schon lange in den Wänden, das war nicht inszeniert in dem Sinn, wie die meisten Theatersachen ausgedacht, hingestellt und durchgezogen sind. Schleef, bedrohlich, riesengroß, stand da, stand ein für den Irrsinn einer nackten Massensaunaszene. Und wie gut hat das dem braven Soldaten Brecht getan! Schleef spielte Puntila wie den ersten Säufer vor dem Herrn. So klar sprach er, jeder Satz ein unumstößliches Urteil. Dafür brauchte er die Bühne. Jenseits des Auftritts war er ein Schweiger und ein Stotterer.

Wie kann man denn an Einar Schleef erinnern? Das Hebbel am Ufer versucht es immerhin. Etel Adnan, die 92-jährige Poetin und bildende Künstlerin, hat für das HAU einen berührenden Text geschrieben. Es ist der Versuch einer behutsamen Annäherung an einen schwer Nahbaren, die nach all den Jahren immer noch Mühe macht. Schleef auf Reisen. Er hat sie in Paris und New York besucht: „War er in Paris, tat er nicht viel. Er erzählte mir, er wolle die Viertel mit Nachtleben besuchen, die nicht so appetitlichen Orte, aber dann gab er es auf. Er wollte sich nicht die Mühe machen, und außerdem war da ja nichts, was er nicht bereits kannte, es hatte keinen Reiz für ihn, und damit basta.“ Etel Adnan schildert Schleef im Ausnahmezustand der Ruhe: „Er liebte die Stadt wegen ihrer Entspanntheit, weil sie nicht fordernd war und weil sie ihm gestattete, kurz einmal nicht in Deutschland zu sein. Man kann sagen, Paris beruhigte ihn einfach. Da wir nah an der Place Saint-Sulpice wohnen, liebte er diesen Platz, besonders im Sommer, wenn man draußen sitzen konnte und die Bänke trocken waren. Nacht für Nacht saß er da, schaute auf den riesigen Brunnen und hörte ihm zu, stundenlang, bis um zwei, wenn das Wasser abgestellt wurde.“

Er wirkte immer schon aus der Zeit gestürzt

Schleefs Bühnenkunst hat auch Etel Adnan als Solitär erlebt: „Sein Theater war das eindrucksvollste, das ich je gesehen habe. Theater, wie wir es in der westlichen Welt kennen, vermittelt im Wesentlichen ästhetische Erfahrungen. Natürlich ist es noch viel mehr, doch es bleibt eine ästhetische Veranstaltung. (…) Über all das ging Einar hinaus. Er wollte und ihm gelang ein Theater, das nicht weniger Bedeutung hat als die schiere Realität. Er setzte das ihm gegebene Talent ein, um Theater zu machen, bei dem das eigene Können hinter den Stücken verschwand, die zu Ereignissen wurden, so wie Realität das Ergebnis von Ereignissen ist. Seine Arbeiten besaßen die Autonomie physischer Vorgänge, man sah ihnen zu, wie man einem Sturm, einem Flugzeugabsturz, einem Berg zusieht.“

Einar Schleef mit 75? Er war ein großes altes Kind. Er wirkte auch immer schon aus der Zeit gestürzt oder in die Zeit hineingeworfen wie ein griechischer Halbgott, dem dutzendweise Wahnsinnsaufgaben und Belastungsproben auferlegt sind, eine Art Herkules, der durch sein eigenes Feuer verglüht. Am Wiener Burgtheater hämmerte er Elfriede Jelineks „Sportstück“ heraus, in Düsseldorf eine opulente „Salomé“. Beim Theatertreffen-Gastspiel 1998 bebte das Schillertheater. Da war das Haus wieder einmal offen.

Fünf Jahre zuvor: Schleef tobt durch Berlin. Er fühlt sich als Opfer der Kulturpolitik. Er will mit seinen Choristen noch unbedingt den „Faust“ stemmen. Die Theatertüren bleiben zu. Unvergessliches Bild: Auf den Treppen des geschlossenen Schillertheaters steht die Truppe, wütend und traurig, skandiert Goethe-Verse. Bei Schleef klang Dichtung nach Gefängnis und Ausbruch, nichts Innerliches gab es da. Immer diese Energie, die sich befreien musste.

Dieser Gigant der Unruhe vermittelte das Gefühl von Sicherheit

Die letzte Inszenierung war 2001 am Deutschen Theater, „Verratenes Volk“, nach Alfred Döblins Roman „November 1918“. Die Berliner Revolution als Höllengesang, stundenlang. Schleef rezitiert als Bühnenriese und Donnergöttlichkeit Nietzsches „Ecce homo“, Inge Keller spricht Miltons „Paradise Lost“. Er hatte die Besten: Martin Wuttke, Jürgen Holtz, ganz früher Jutta Hoffmann. Schauspieler haben ihm vertraut, sich ihm ergeben. Bei Wuttke spürt man die Energie heute immer noch, die er bei Schleef aufnahm.

In seiner Arbeit hörte man ein Brausen, es herrschte da ein autoritär-totalitärer Ton, der auf der Bühne fasziniert und der zutiefst erschreckt, wenn er überspringt in die Realität. Das beschreibt die Zeit und Differenz seit Einar Schleefs Tod. Das ist das, was sich geändert hat: Die Diktatoren in spe, das Tyrannische, das begnügt sich nicht mehr mit dem Theaterrahmen. Es ist heraus und will politische Macht. Schleefs Toben und Wüten, seine chorischen Exerzitien, der militärische Aufzug dieses Zivilisten – ein für alle Mal schienen die Kräfte der Zerstörung und der Zucht gebannt. Verbannt in das Reich eines auch zu sich selbst grausamen Engels. Es war ein Irrtum.

Die Grenze ist gefallen. Politische Brutalität auf der Bühne wirkt aufgesetzt, die Realität hat die Regie übernommen, es gibt da draußen die stärkeren, schlimmeren Bilder. Man denkt im Januar des Jahres 2019 an Schleef und erinnert sich an seine Zeit als eine Phase relativer gesellschaftlicher Balance und vulkanischer Kunst. Seltsam, aber dieser Gigant der Unruhe vermittelte ein Gefühl von Kraft und Sicherheit und Schönheit auch. Danach kam die Zeit des Ironikers Frank Castorf, und die ist auch schon wieder vorbei. Jetzt regieren auf der Bühne die Versteher und Verwalter.

Zur Startseite