Kultur: Einar Schleef: Der letzte Tragiker, ein deutscher Künstler
Auf der Bühne schien er immer: der Berserker. Ein hünenhaft massiger Mensch, obenauf ein fast kindlich weiches Gesicht unterm struppigen Graublond - doch aus Kopf und Corpus schwitzend und dröhnend, und seine Rollenreden waren tatsächlich Aufrufe, Erschütterungsversuche, waren also wahrhaft öffentliche Ansprachen, die das Theater noch einmal als Forum, Kultstätte und gesellschaftliche Arena beschworen.
Auf der Bühne schien er immer: der Berserker. Ein hünenhaft massiger Mensch, obenauf ein fast kindlich weiches Gesicht unterm struppigen Graublond - doch aus Kopf und Corpus schwitzend und dröhnend, und seine Rollenreden waren tatsächlich Aufrufe, Erschütterungsversuche, waren also wahrhaft öffentliche Ansprachen, die das Theater noch einmal als Forum, Kultstätte und gesellschaftliche Arena beschworen. So erlebten wir ihn als Brechts Puntila, den er 1996 im Berliner Ensemble vom ländlichen Gutsbesitzer in einen Weltherrn und Herrn der Theaterwelt, in einen Dompteur und Tyrannen im Frack verwandelt hat, oder als Conférencier schon am Beginn des siebenstündigen "Sportstücks" von Elfriede Jelinek 1998 am Wiener Burgtheater. Dabei kämpfte Einar Schleef, der regieführende Darsteller, dann mit jedem Wort, mit jedem Satz in einer sich steigernden Suada gegen die zögernde Zunge und den schweren Atem an, die ihn von Kindheit her zum Stotterer gemacht hatten. Was auf der Bühne oft wie Fanatismus oder Demagogie wirkte, war doch zu allererst: ein Sieg der Kunst über die eigene Natur.
Er wollte immer außer sich geraten, über den Einzelnen und sich selbst hinauswachsen. Darum war ihm Nietzsche, seine letzte Rolle, so nah. Als der Philosoph am Rande des Wahnsinns in Turin einen Droschkengaul als göttlich menschlichen Bruder umarmte, da hätte man sich auch Schleef vorstellen können: die beiden zusammen umhalsend! Denn er konnte das Gewaltige mit dem schwarzen Humor und einer in der Arbeit, im Gespräch fast verblüffenden Zärtlichkeit verbinden. Nur im Streit war er unerbittlich und erlag schnell seinem leidenschaftlichen Furor. Als ich bei einer Diskussion im Düsseldorfer Schauspielhaus einmal zwischen Schleef, dem teutonischen Dionysiker, und dem jetzt fast zeitgleich verstorbenen Adolf Dresen, einem schillerbrechtschen Aufklärer, saß, musste die Moderation auch der Verhinderung drohender Tätlichkeit dienen.
Schleef war anstrengend. Unbequem. Als der 1944 im thüringischen Sangershausen Geborene 1964 als Kunstschüler nach Berlin kam, wurde seine Begabung bald erkannt. Schleef war zwei Jahre lang Meisterschüler des Bühnenbildners und Brecht-Schülers Karl von Appen und galt ab Anfang der 70er Jahre in der Zusammenarbeit mit B. K. Tragelehn als eine der großen jungen Begabungen des DDR-Theaters. Doch das Gespann Tragelehn / Schleef wurde offziell sogleich beargwöhnt und eine helle, leichtfüßig auch ins Publikum hineinspielende Inszenierung von Strindbergs "Fräulein Julie" (mit Jutta Hoffmann am BE) von Honecker abgesetzt. 1976, im Jahr der Biermann-Ausbürgerung, ging Schleef in den Westen und wurde dort als Regisseur erst wirklich zum großen Umstrittenen. Denn wie Nietzsche als Philosoph erfand sich Schleef als Theaterbesessener die Antike und das überzeitlich Übermenschliche neu: indem er den griechischen Chor nicht als Schar von Individuen (und freundlichen Zeitgenossen), sondern als stampfende, skandierende Masse wie eine hochtrainierte Urhorde ins brav gewordene, von den Stürmen der 70er Jahre erschöpfte bundesdeutsche Stadttheater einbrechen ließ. Einar Schleefs "Mütter", ein "Projekt" nach Aischylos und Euripides, rief - und kommandierte - im Schauspiel Frankfurt 1986 ein halbes Hundert auf baren Knien rutschender (und blaufleckig geschundener) junger Frauen auf den Plan, die unendlich oft "Vorbei der Hass, bis unserer hochsteigt ..." riefen. Da war dann auch viel Monotonie dabei, und die gleichgeschaltete Masse Mensch ließ gelegentlich nicht an die Antike denken. Sondern an Hitler & Stalin. Und was über Stunden zu Ermüdung und Unverständnis führte, gebar den Kritiker-Kalauer: "Alles schläft, Einar wacht."
Derart hübsche Sottisen freilich trafen den so autistisch wie autodidaktisch hochgebildeten Schleef ziemlich tief. Tief unter die Stirn. Wenn nicht ins Herz. Er selbst zitierte zu seinem Inszenierungsstil einen wenig bekannten, für ihn "schön bösen" Kafka-Satz: "Nur der Chor ist wahr, das Individuum lügt." Allerdings war im antiken Drama der Chor Ausdruck der allgemeinen Moral und des gleichsam zivilen Gewissens - und nicht nur einer radikalen Künstler-Subjektivität, die den eigenen Einfall einem marionettenhaften Kollektiv in die Münder und Glieder befiehlt. Und gelogen wäre es, einige Schleef-Aufführungen jetzt nachträglich eine Freude und nicht eine Folter zu nennen. Schleefs größter Skandal-Erfolg, die Uraufführung von "Wessis in Weimar" im Berliner Ensemble 1993, war für mich so eine Folter. Nicht, weil man Rolf Hochhuths in der Tat unsäglichen (und von Schleef fast völlig gestrichenen!) Text hätte retten können. Sondern weil ein leicht durchschaubares Vorurteil über das Kolonialisations-Verhältnis zwischen bösen West-Herren und blöden Ost-Knechten in ein hysterisches Ritual aus Brüllen, Stampfen und Marschieren verwandelt wurde: Exerzieren als Exorzismus.
Aber daneben, dahinter, darüber gab es den Poeten Schleef. Ingeniös war schon seine Frankfurter Tiefenschürfung in Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenuntergang", und vollends kongenial geriet er mit der so denkbar unmachohaften, fragil furiosen Dichterin Elfriede Jelinek zusammen: Ihre Stücke, die das individuelle Drama zu überpersönlichen Rede-Landschaften, zu Super-Monologen und Oratorien der Körper und Seelen öffnen, sie kamen Schleefs Sinn für das Chorische überraschend, bestürzend entgegen. Toll seine Wiener Version des "Sportstücks"; und ein Jammer, dass die Uraufführung von Jelineks szenischem Requiem "Macht nichts", in dem Schleef am Ende in der Figur des "Wanderers" Jelineks eigenes Vater-Bild gespielt hätte, Anfang des Jahres wegen Schleefs Herzanfall im Berliner Ensemble kurz vor der Premiere abgesagt werden musste.
Väter, Mütter. Der Schriftsteller Einar Schleef, der mit dem riesigen Kunst-Essay "Droge Faust Parsifal" 1997 eine grandiose Gedankencollage und Autobiografie geschrieben hat, begann in der Bundesrepublik mit "Gertrud", mit dem Lebensroman seiner Mutter. Er habe ihr "eine Pyramide gebaut." Das hieß: "Einfach Schotter übereinander für eine deutsche Familientragödie." So wurde er auch ein hochpersönlicher Chronist des 20. Jahrhunderts, seine Wortmacht den Ohnmächtigen schenkend, im Eigensinn und der Beobachtungsschärfe einem Uwe Johnson vergleichbar. In einem noch unveröffentlichten Text für einen Portrait-Band der Fotografin Karin Rocholl, den uns die Autorin jetzt gab, schreibt Elfriede Jelinek: "Mit wieviel Sprache er allein seinen Kopf umgibt! Da komme ich nie durch, auch wenn die Sprache so kräftig ist, dass ich innerlich erröte, wenn ich mich nur in die Nähe traue." So fliege die Sprache um ihn wohl "wie ein Hornissenschwarm".
Letzte Woche sollte er bei den Salzburger Festspielen noch Nietzsche in Person spielen - mit einer Hommage an Elfriede Jelinek. Wie erst jetzt bekannt wurde, ist Einar Schleef aber schon am 21. Juli in einem Berliner Krankenhaus mit 57 Jahren an Herzversagen gestorben.
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