Hilfe für Liu Xia: Der Flug der Schwalbe
Die Dichterin Liu Xia, Witwe des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, darf nicht aus China ausreisen – ein Hilferuf von Liao Yiwu.
Am 30. April um vier Uhr nachmittags rief ich Liu Xia in Peking an. Sie sagte: „Jetzt gibt es nichts mehr, wovor ich mich fürchte. Wenn ich mein Haus nicht verlassen darf, werde ich hier sterben. Xiaobo ist tot, und in dieser Welt hält mich nichts mehr. Es ist für mich leichter zu sterben, als weiterzuleben. Nichts ist einfacher für mich, als den Tod herauszufordern.“
Ich fühlte mich, als hätte man mir einen Stromschlag versetzt. Ich riet ihr zum Abwarten. Denn obwohl sie seit Xiaobos Tod im vergangenen Juli unter Hausarrest steht, nachdem man sie zuvor in die Provinz Yunnan verbracht hatte, weiß ich, dass ihr Mitarbeiter der Staatssicherheit immer wieder versprachen, das Land verlassen zu können, um ihre schwere klinische Depression behandeln zu lassen. Erst sagten sie ihr, sie solle den 19. Parteikongress abwarten, dann war es das jährliche Treffen von politischer Konsultativkonferenz und Volkskongress im März. Am 1. April, kurz vor ihrem 57. Geburtstag, rief der deutsche Botschafter Liu Xia an, um ihr die besondere Anerkennung von Bundeskanzlerin Merkel zu übermitteln, und lud sie sie zum Badmintonspielen nach Berlin ein.
Nach meinen Informationen hatte der deutsche Außenminister schon Anfang April Vorkehrungen getroffen, die Medien außen vor zu lassen, Liu Xia heimlich am Flughafen abzuholen und ihr Behandlungs- und Erholungsmöglichkeiten anzubieten. Bei unseren Telefongesprächen fragte ich Liu Xia mehrfach nach ihrer Meinung und diskutierte die Angelegenheit mit ihren Freunden Herta Müller, Harry Merkle, Carolin Emcke, Silvia Fehrmann und Peter Sillem, dem internationalen Agenten ihrer Fotokunst. Wir gingen jedes Detail durch. Herta Müller konnte das Literaturhaus dazu bringen, ihr für eine Übergangszeit ein Apartment zur Verfügung zu stellen, und Peter Sillem hatte sich um Krankenhäuser und medizinische Spezialisten bemüht.
Wir haben alle still diese besondere Patientin erwartet. Liu Xia hat keinerlei Vorstrafenregister, und einem Sprecher des chinesischen Außenministeriums zufolge hat sie vollkommene Reisefreiheit.
Am Rande des Zusammenbruchs
Nach Xiaobos Tod war Liu Xia am Boden zerstört, und die klinische Depression, an der sie seit Jahren litt, kehrte stärker zurück als je zuvor. Sie befand sich am Rand des geistigen Zusammenbruchs. Solange sie sich in China befindet, können wir uns nicht um sie kümmern. Als Liu Xia ihrem Mann Xiaobo erzählte, dass sich in Deutschland ein Hilfs- und Rettungsteam zusammengetan habe (den 82-jährigen Wolf Biermann und dessen Frau eingeschlossen), war der dem Tode Geweihte zu Tränen gerührt.
In dem eingangs erwähnten Telefongespräch erklärte ich Liu Xia allerdings auch, dass ich mich nicht länger ruhig verhalten wolle. Ich will etwas unternehmen und einiges von dem offenlegen, was ich bisher zurückgehalten habe. Ich erklärte ihr, dass ich über ihre Weinkrämpfe schreiben wolle. Selbst nachdem sie große Dosen von Antidepressiva eingenommen hatte, konnte sie diese nicht unter Kontrolle bekommen. Liu Xia erklärte sich mit meiner Absicht einverstanden.
Zunächst rief ich sie an und trug ihr meine Sorge vor, dass sie ein weiteres Mal vom öffentlichen Radar verschwinden könnte. Schon im Jahr zuvor hatte die chinesische Regierung das getan, indem sie erklärte, dass Xiaobo und Liu Xia das Land nicht verlassen wollten. Glücklicherweise hatte ich ihre handschriftliche Versicherung, dass sie das genaue Gegenteil beabsichtigten, und bezeichnenderweise wurde dies der stärkste Beweis gegen die Lügen der Regierung.
Ich bestand darauf, dass Liu Xia von Neuem ersuchen solle, das Land zu verlassen, und zuerst sträubte sie sich hartnäckig. Dann geriet sie in Panik und warf das Telefon zu Boden. Ich wartete ein wenig, rief sie nochmals an und hörte, wie sie unter Tränen ausrief: „Die deutsche Botschaft kennt meine Situation genau. Die ganze Welt kennt sie. Was also hat es für einen Sinn, mein Gesuch wieder und wieder zu formulieren? Ich kann es von nirgendwo verschicken. Ich habe weder Handy noch Computer.“
Die gesamte Aufnahme dauert 16 Minuten und 30 Sekunden. Ich nahm mir die ersten sieben Minuten und blendete ungefähr bei Minute vier das Klavierstück „Dona Dona“ ein. Heftige Gefühlswellen breiteten sich in mir aus. Als ich die Musik abstellte, rief ich aus: „Liu Xia!“ Ihr Weinen ließ nach, und sie sagte: „Nachdem der deutsche Botschafter angerufen hatte, habe ich sofort zu packen angefangen. Ich habe keine Zeit verschwendet – was sonst soll ich noch tun?“
„Dona Dona“ ist eine Melodie aus „Esterke“, einem Anfang der 40er Jahre entstandenen jiddischen Musical des Komponisten Shlomo Secunda mit Texten von Aaron Zeitlin. Im Text geht es darum, dass ein Kalb zum Schlachter geführt wird, während eine Schwalbe über seinen Kopf hinwegflitzt. Das Kalb denkt: Wie großartig wäre es, wenn ich mich nur in eine Schwalbe mit Flügeln verwandeln und wegfliegen könnte. Unglücklicherweise ist das Kalb eben keine Schwalbe.
Wie ihr Mann Liu Xiaobo hatte Liu Xia eine Leidenschaft für Werke, die mit dem Holocaust zu tun haben. Liu Xia sagte sogar, sie meine, in einem früheren Leben eine Jüdin gewesen zu sein. „Dona Dona“ ist zum Inbegriff des Völkermords geworden, für die Millionen von Juden, die sich Kalb um Kalb ihrem Schicksal ergaben, während sie zum Schlachter geführt werden. Erlaubt mir deshalb, Liu Xia an die Stelle von Dona Dona zu setzen, und erlaubt mir, ihr Schluchzen als neuen Text zu verwenden.
Dona, Dona, gebt ihr Freiheit.
Dona, Dona, schreit auf für sie.
Der chinesische Dissident Liao Yiwu, 1958 in der Provinz Sichuan geboren, lebt als Schriftsteller in Berlin. Im S. Fischer Verlag ist gerade sein Buch „Drei wertlose Visa und ein toter Reisepass – Meine lange Flucht aus China“ erschienen. Der obenstehende Text war im chinesischen Original und englischer Übersetzung zuerst auf chinachange.org zu lesen, einer Website, die sich für den zivilgesellschaftlichen Fortschritt in der Volksrepublik einsetzt. Gregor Dotzauer hat ihn übersetzt.
Liao Yiwu
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