Videospiel „Hellblade: Senua’s Sacrifice“: Der Feind in meinem Kopf
Abstieg in die Abgründe der Seele: Das Videospiel „Hellblade: Senua’s Sacrifice“ setzt sich mit der menschlichen Psyche auseinander - und zeigt das Zukunftspotential von Games.
Ihre Geschichte ist wie eine Fotografie, die gleichzeitig auseinandergerissen und wieder neu zusammengesetzt wird. Sie beginnt im Nebel, auf einem verlassenen Fluss. Mit Frauenstimmen, die das eigene Gehör umtanzen, verwegen flüstern, kichern. Sie hauchen einen Namen in den Wind. Doch Senua, die junge keltische Kriegerin, die ihn trägt, ignoriert sie. Sie rudert stromaufwärts. Entschlossen. Verängstigt. An den aus dem Wasser ragenden aufgespießten Kadavern vorbei, dem Ufer eines düsteren Waldes entgegen. „Man könnte meinen, dass sie tapfer sei, sich alleine auf diese Reise zu begeben“, sagt eine der Stimmen, die sich aus der Kakofonie als eine Art Erzählerin befreit, „doch Tapferkeit bedeutet nur jenen etwas, die Angst vor dem Tod haben. Senuas Angst reicht viel, viel tiefer.“
Dieses Beklemmen, diese düstere Stimmung zwischen Einsamkeit und Wahnsinn, mit der das kürzlich erschienene Videospiel „Hellblade: Senua’s Sacrifice“ einsetzt, erinnert nicht zufällig an den Literaturklassiker „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad. „Hellblade“ vom kleinen britischen Entwicklerstudio Ninja Theory erzählt, wie Konrads moderne Parabel, vom Abstieg eines Menschen in die Abgründe der menschlichen Psyche. Senua glaubt, ihre große Liebe aus der Unterwelt der nordischen Mythologie zu retten. Doch sie leidet unter einer schweren Psychose. Ihre Heldenreise führt sie und den Spieler in ihre eigene, zerrüttete Seelenlandschaft, an die Grenzen von Realität und Einbildung, Trauma und Halluzination. Die Fachpresse, aber auch Medien wie die „Washington Post“ sprechen von einem erzählerischen, atmosphärischen und emotionalen Meilenstein, vom vielleicht wichtigsten Spiel des Jahres.
Games werden erwachsen, das hört man immer wieder. Selbst die Politik gab Mitte August auf der Gamescom, der größten deutschen Spielemesse in Köln, ein Lippenbekenntnis zum Videospiel als Kulturgut ab. Die britischen BAFTA Awards und auch die American Writers Guild verleihen seit einigen Jahren Auszeichnungen für Videospiele. Games wollen längst nicht mehr nur unterhalten. Sie suchen nach neuen Formen, um persönliche und tiefgründige Geschichten zu erzählen. Sie knüpfen damit an eine Vision an, die die Geburt des Mediums begleitete.
Bereits 1997 postulierte die Harvard- Literaturwissenschaftlerin Janet Murray, im Videospiel stecke die Verwirklichung eines utopischen Versprechens. „Der Computer“, schrieb sie in ihrem heute kanonischen Werk „Hamlet on the Holodeck: The Future of Narrative in Cyberspace“, „wirkt jeden Tag mehr wie die Filmkamera der 1890er Jahre: Eine revolutionäre Erfindung, die kurz davor steht, zu einem magischen Geschichtenerzähler zu avancieren.“ Games würden die Erzählmittel aus Literatur und Film für sich nutzen, um interaktive, nicht-lineare und voll immersive Geschichten zu kreieren. Ein Hypertext, den man nicht liest, sondern in dem man sich verliert, den man aktiv mitgestaltet.
Verglichen mit dem, was damals technisch möglich war, ist die Branche heute Lichtjahre weiter. Die visuelle Darstellung wird immer beeindruckender, hochkarätige Schauspieler werden einbezogen, um die Charaktere per Motion-Capturing zu inszenieren. In „Beyond: Two Souls“ verkörperten Ellen Page und Willem Dafoe die Hauptcharaktere, das Detektiv-Drama „L. A. Noire“ engagierte gleich den halben Cast von „Mad Men“, um seine an Raymond Chandler angelehnten Kriminalgeschichten zu erzählen. „Quantum Break“ vermengte Spielpassagen mit 30-minütigen Episoden einer Live-Action-TV-Serie, bei denen im Spiel getroffene Entscheidungen die Seriensequenzen beeinflussten.
Alles ambitionierte Ansätze – doch das Versprechen einer neuen, revolutionären Erzählform haben Games noch nicht eingelöst. Im Gegenteil: Spiel und Handlung laufen immer noch eher nebeneinanderher, stehen in Konflikt. Die Darstellung von komplexen Emotionen oder der menschlichen Psyche ist auf die filmischen Passagen beschränkt, sie wird nicht Teil der Spielerfahrung selbst.
Gerade hier geht „Hellblade“ in eine spannende, neue Richtung. Das Team von Ninja Theory hat mit einem Cambridge-Professor für Neuropsychologie und betroffenen Menschen zusammengearbeitet, um die Repräsentation von Senuas psychischer Fragilität so authentisch und gleichzeitig respektvoll wie möglich zu gestalten. Ihr Leiden findet nicht nur im Vakuum von Textzeilen und Filmsequenzen statt, es ist in die Struktur des Spiels selbst eingeschrieben.
Es gibt kein Interface, keine helfenden Erklärungen. Der Spieler muss auf den nagenden Erzählstrom sich widersprechender Stimmen in Senuas Kopf hören. Sie leiten ihn, geben Hinweise, um Rätsel zu lösen, warnen ihn im Kampf gegen Senuas innere Dämonen. Gleichzeitig versuchen sie, einen zu täuschen, zu belügen.
An einer Stelle schickt das Spiel einen durch ein Verlies, in dem jeder Durchgang, jedes Vor und Zurück, in denselben Raum zu führen scheint. „Schau hin“, sagen die Stimmen. „Etwas hat sich verändert.“ Hat es das? Übersieht man etwas, oder wird man dazu verleitet, etwas sehen zu wollen, was nicht da ist? Diese Erfahrung ist exemplarisch für das Prinzip des Spiels: Man kann seinen Mechaniken nicht trauen, dem, was man sieht, hört und fühlt, weil die Spielwelt eine Projektion von Senuas Bewusstsein ist. „Hellblade“ gelingt durch dieses Konzept ein kleiner Schritt raus aus den großen Fußstapfen von Film und Literatur. Auf einen Weg, der so intensiv wie unheimlich ist.
Giacomo Maihofer
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