Teile von Max Frischs „Berliner Journal“ veröffentlicht: Der faule Frieden von Friedenau
Triumph und Torso: Nach 20 Jahren im Safe werden erstmals Teile von Max Frischs „Berliner Journal“ veröffentlicht. Die Notizen entstanden zwischen Februar 1973 und April 1980. Sie enthalten neben herrlichen Kollegenporträts auch ungeschönte Beschreibungen seines Alltags.
Was jemand in einem Tagebuch festhält und was er unterschlägt, hängt nicht allein davon ab, ob es für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Auch wer sich nur im stillen Kämmerlein auf den Grund zu gehen versucht, entwirft – bewusst und unbewusst – ein Bild von sich, das einige Züge betont und andere in den Hintergrund rückt. Das Vorteilhafte solcher Porträts kann durchaus im vermeintlich Unvorteilhaften liegen. Man inszeniert sich als ehrliche Haut und nimmt in Kauf, dabei als Scheusal zu erscheinen. Moralischer Exhibitionismus funktioniert sogar in der reinen Selbstbezüglichkeit.
Als Max Frisch 1973 einen „Versuch mit Berlin“ begann und mit der 28 Jahre jüngeren Marianne Oellers, die er 1968 geheiratet hatte, aus der Schweiz in die Friedenauer Sarrazinstraße 8 zog, war er ein berühmter Autor – auch dank zweier Tagebuchbände, die zu den literarischen Höhepunkten der Gattung im 20. Jahrhundert zählen. Weder das „Tagebuch 1946 -1949“ noch das kurz zuvor erschienene „Tagebuch 1966 -1971“ leben von unmittelbar privaten Bekenntnissen.
Es sind Prosalaboratorien in der ersten und dritten Person: sorgsam komponierte und redigierte Szenen und Gedankenskizzen, deren motivischer Zusammenhang sich im Lauf der Lektüre erschließt. Doch so, wie der Erzähler Frisch spätestens in Berlin seiner Romanfiktionen müde geworden war, auch weil ihm die Stoffe auszugehen schienen, drängte es ihn in seinen Aufzeichnungen zu einem direkteren Ton – nicht ohne über dessen prekären Status nachzudenken.
„Seit ich die Notizen, die anfallen, in ein Ringheft einlege, merke ich schon meine Scham“, heißt es in den Auszügen aus dem „Berliner Journal“, die nun erscheinen, nachdem die von Frisch selbst verfügte postume Sperrfrist von 20 Jahren abgelaufen ist. „Ein Zeichen, dass ich beim Schreiben schon an den öffentlichen Leser denke, gleichviel wann es dazu kommen könnte. Und mit der Scham gleichzeitig auch die Rücksicht auf andere.“ Nur wem schuldet er etwas, wenn er sich ermahnt: „Ich schreibe nicht: Paul ist ein Arschloch. Punkt. Damit wäre ich ja ungerecht.“
Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit ringen in diesen zwischen Februar 1973 bis April 1980 geführten Aufzeichnungen, denen er offenbar aus Bewunderung für Bertolt Brechts „Arbeitsjournal“ den Namen „Berliner Journal“ gab, auf zuvor ungekannte Weise miteinander. Wo beider Versöhnung gelingt – und die vorliegende Auswahl gestattet nur winzige Ausblicke ins Scheitern –, knüpfen die Texte in ihrer Pointiertheit und Schärfe an die zu Lebzeiten veröffentlichten Tagebücher an.
Herrlich die Porträts der Kollegen: von Günter Grass, dem Nachbarn in der Niedstraße, einem in seiner Bedeutung vor sich hin dampfenden Großschriftsteller in fortwährender nationaler Verantwortung. Dem dort gleichfalls ansässigen Uwe Johnson, der ihm aus der Distanz eines freundschaftlichen Sie immer die richtigen bohrenden Fragen zu stellen wusste. Dem gestrengen, hochgradig friktionsbegabten Alfred Andersch, den er im Tessin zurückgelassen hatte. Oder dem sympathisch geschwätzigen Zwangsironiker Hans Magnus Enzensberger. Dies alles ist von zeitloser Gültigkeit.
Noch stärker ist er als Chronist der Ostberliner Literaturszene. Unbestechlich leuchtet er ins Grau der untertänig Dienst am Sozialismus verrichtenden Geister, hört zu, wie viele dazu verdammt sind, mit gespaltener Zunge zu reden oder sich wie Günter Kunert höchstens in alles besänftigender Vorsicht äußern. Er trifft sich aber auch mit Unerschrockenheitswundern wie Jurek Becker und Wolf Biermann. Es ist das hellsichtige Psychogramm eines Landes, dessen „Verschleiß von natürlichem Charakter“ unvermeidlich ist, „wenn das taktische Verhalten im täglichen Umgang zur zweiten Natur wird“.
Knapp 70 Manuskriptseiten des Journals bleiben unveröffentlicht
Wo ist das Anstößige, dessentwegen man jahrzehntelang auf die Publikation des Journals verzichten musste? Vielleicht ist es das Ungeschönte, mit dem sich Frisch hier als Alkoholiker zu erkennen gibt. Oder die bittere Art, in der er sich als zusehends verfettender, ideenloser Greis charakterisiert. Beides findet sich in den 2010 erschienenen „Entwürfen zu einem dritten Tagebuch“, das im Frühjahr 1982 einsetzt, noch radikaler. Es ist ihm also zumindest nicht versehentlich unterlaufen. Vielleicht ist es das kokett wirkende Jammern, infolge „ziemlich horrender Auflagen“ als Erfolgsschriftsteller am „Pranger der Öffentlichkeit“ zu stehen. Es mutet heute in seiner Funktion nicht weniger fragwürdig an. Wenn Max Frisch Rücksichten nehmen wollte, dann dürfte ihm am wenigsten um ihn selbst zu tun gewesen sein.
Thomas Strässle und Margit Unser, die Leiterin des Max-Frisch-Archivs an der Zürcher ETH, haben das „Berliner Journal“ nach philologischen Maßstäben mustergültig ediert und annotiert. Bis in die kleinste Auslassung und Korrektur geben sie Aufschluss über seine Textgestalt: ein genussvoll lesbares Ensemble von weitgehend durchgearbeiteten Stücken. Gerade diese Geschlossenheit überdeckt aber, mit welchem Torso man es eigentlich zu tun hat.
Von den fünf Ringbüchern, die im April 2011 einem Banksafe am Zürcher Bellevue entnommen wurden, sind nur die ersten beiden aufbereitet worden. Knapp 70 Manuskriptseiten fielen dabei unter den Tisch. Die restlichen drei Ordner hat man erst gar nicht in Betracht gezogen. Im Anhang heißt es: „Sämtliche Auslassungen erfolgten aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen. Literarische Gesichtspunkte waren nicht ausschlaggebend.“ Thomas Strässle bringt in seinem Nachwort gegen die rein juristische Perspektive allerdings durchaus eine qualitative Bewertung ins Spiel, wenn er schreibt, dass nur die „Passagen aus den ersten beiden Heften“ von „allgemeinem literarischen Interesse“ seien, während die private Chronik „deutlich weniger sorgfältig und gegen Ende hin skizzenhaft verfasst“ sei.
"Es wäre noch einiges zu sagen, o ja, sogar viel ..."
Die näheren Umstände referiert Strässle nicht einmal in Andeutungen – geschweige denn, dass er sie ausreichend reflektiert. Soweit Persönlichkeitsrechte infrage stehen, betreffen sie wohl vor allem Frischs Witwe Marianne – und ein Eheleben, in das schon kurz nach der Ankunft in Berlin die Entfremdung eingezogen war. Sie hatte ihn gut zehn Jahre zuvor von seinem Liebesdesaster mit Ingeborg Bachmann geheilt. Frischs Biografen Volker Weidermann und Volker Hage haben indes in Erfahrung gebracht, dass der für postume Frisch-Veröffentlichungen zuständige Stiftungsrat nicht einmal den Versuch unternommen hat, Marianne mehr abzuhandeln als den vorliegenden Text. Ein Versäumnis, das dadurch eine besondere Note erhält, dass Strässle Herausgeber und Stiftungsratsvorsitzender in einer Person ist.
Von einer substanziellen Ehekrise ist hier trotz mancher Ahnung jedenfalls nichts zu lesen. Es gibt alltägliche Differenzen und alltägliches Glück; ein einziges Mal fällt unvermittelt das Wort „Ehe-Ruine“. Musste der private Stoff, den Frisch verarbeitete, die geordnete Form schließlich sprengen, oder war das (mutmaßlich) Formlose das Ergebnis mangelnder Konzentration? Gab es Situationen, in denen dem stets so moderat melancholisch auftretenden Schriftsteller der stilsichere Kragen platzte und Gehässigkeit und Verzweiflung von ihm Besitz ergriffen? Soll womöglich das Bild eines Mannes geschützt werden, der gerne coram publico Gewissenserforschung trieb, hier jedoch mit Selbst- und Fremdbezichtigungen jedes Maß verlor? Um beurteilen zu können, wie tief Frisch das autobiografische Messer ansetzte, müsste man aus dem züchtigen Abstand des 21. Jahrhunderts tatsächlich durchs Schlüsselloch in der Sarrazinstraße spähen dürfen.
Die Amputation des größten Journalteils beschädigt nämlich sehr wohl ein allgemeines Erkenntnisinteresse. Denn schon im zweiten Heft schreibt Frisch: „Es wäre noch einiges zu sagen, o ja, sogar viel, aber es müsste sehr genau gesagt sein und einfach, d.h. ohne literarische Ambition; Flaschenpost.“ Genau dies übte er erstmals in seiner 1975 erschienenen Erzählung „Montauk“, die nur schwach fiktionalisiert von seiner Beziehung mit der amerikanischen Studentin Lynn alias Alice Locke-Carey erzählt.
Frisch selbst, wenig zimperlich, hatte Marianne das Manuskript übrigens vor der Veröffentlichung in die Hand gedrückt. Eine Geste als Geständnis – und als Versuch, ihr im Namen eines Bravourstücks das Imprimatur zu entlocken. Welche advokatorisch abzuwägenden Rücksichten gelten demgegenüber heute?
Die Enttäuschung muss sich fürs Erste auch im Fall des „Berliner Journals“ mit einem literarischen Triumph trösten, der Stücke wie das folgende hervorgebracht hat. „Ein französischer Edelmann, der auf dem Weg zum Schafott noch um ein Papier bittet, um sich etwas zu notieren, und es wird ihm gewährt, man könnte die Notiz ja vernichten, wenn sie sich an irgendjemand richtet, aber das ist nicht der Fall; es war ganz und gar eine Notiz für ihn selbst, pro memoria.“ Man lese dies getrost als Auskunft in eigener Sache.
Max Frisch: Aus dem Berliner Journal. Herausgegeben von Thomas Strässle. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 235 Seiten, 20 €.
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