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Lieber wütend als weise. Günter Grass, wie er leibt und streitet.
© dapd

Zum 85. Geburtstag: Günter Grass: Ich und die Welt

Zum 85. Geburtstag schenkt Günter Grass sich und seinen Lesern den Gedichtband "Eintagsfliegen". Darin finden sich auch seine beiden heftig kritisierten Israel- und Europa-Poeme "Was gesagt werden muss" und "Europas Schande".

Es war also „der schreibende Pfeifenraucher“ Max Frisch, der einst dem jungen Schriftsteller Günter Grass den Rat gab, „bis ins Alter hinein zornig zu bleiben / und nicht – wie erwartet wird – / im alles mildernden Abendlicht / weise zu werden. / Fortan folgte ich seinem Rat.“ Nun lässt sich gewiss gut darüber streiten, ob das Erlangen von Weisheit nicht das erstrebenswertere und der Gesundheit dienlichere Ziel für die späten Jahre eines Menschen darstellt als beständiger, von was auch immer sich nährender Zorn. Günter Grass jedoch ist in dieser Hinsicht über jeden Streit erhaben, weshalb er dem lyrischen Selbstbekenntnis den Titel „Guter Rat“ gegeben hat. „Guter Rat“ gehört zu den 85 Gedichten des Bandes „Eintagsfliegen“, den Grass sich zu seinem heutigen 85. Geburtstag geschenkt hat.

Titel und Untertitel („Gelegentliche Gedichte“) sollen zwar Beiläufigkeit und Nebenwerkscharakter suggerieren, genau wie die Entstehung der Gedichte während der Zeichen- und Radierarbeiten an einer Jubiläumsausgabe seines Romans „Hundejahre“: „Für mich selbst überraschend hatten sich während dieser intensiven Arbeitsperiode mit Stichel und Ätzbad in Kupfer zahllose Gedichte angesammelt, die jetzt zu Papier gebracht werden wollten“, verrät Grass im Katalog des Göttinger Steidl-Verlags, der seit 1993 seine Bücher veröffentlicht und auch sein Gesamtwerk betreut.

Doch der Veröffentlichungstermin, die mit seinem Alter schön abgestimmte Anzahl der – jeweils mit aquarellierten Zeichnungen von Eintagsfliegen versehenen – Gedichte und nicht zuletzt die Ausstattung (schweres Papier, Leinen aus Bamberg, stabiler, rotschwarzer, mehr an ein Kochbuch als eine Kladde erinnernder kartonierter Einband) sprechen eine andere Sprache. Diese „Eintagsfliegen“ sind mehr als nur für einen Tag geschrieben, mehr als nur Zufalls- und Gelegenheitsarbeiten, sie sollen bitte schön ihre Zeit und die ihres Verfassers überdauern.

Zumal sie einen Zweck, den des Sich-immer-wieder-einmischen-Müssens, den des Zorns und politischer Unbequemlichkeit, schon erfüllt haben. Der Band erhält natürlich jene Gedichte, mit denen Günter Grass zuletzt weniger die literarische als die politische Öffentlichkeit auf Trab gehalten hat: seinen Vorwurf an Israel, den Iran mit der Atombombe zu bedrohen, „Was gesagt werden muss“. Und die Abrechnung mit Europa wegen des Umgangs mit Griechenland, „Europas Schande“. Beide Gedichte wurden in der „Süddeutschen Zeitung“ zielsicher vorabgedruckt, gefolgt von reicher Empörungsernte. Und beide Gedichte wie auch der Lobgesang auf den Techniker Mordechai Vanunu, der einst Israels geheimes Atomwaffenprogramm verraten hatte, fallen in einer so großen Sammlung nicht übermäßig auf. Gerade beim Wiederlesen von „Was gesagt werden muss“ spürt man, wie sehr Grass versucht hat, sich abzusichern: als Deutscher, der Israel verbal angreift, als Staatsbürger eines Landes „von ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind“. Und aus „der Regierung der Atommacht Israel“ hat er beim Nacharbeiten abmildernd „die gegenwärtige Regierung der Atommacht Israel“ gemacht.

Die deutschen Waffenexporte, die Allmacht der Finanzmärkte, die „unsere letztgültige Gottheit“ sind, der Klimawandel, die Kernschmelze in Japan, die Springer-Presse, die negativen Folgen der Digitalisierung – all das ist sowieso Bestandteil vieler dieser Gedichte, gipfelnd in „Zwiefacher Schwindel“. Darin schließt Grass eigene Gebrechen wie Durchblutungsstörungen und Schwindel mit dem Schlingern der Welt kurz: „Doch wenn ich, was mir Gewohnheit ist, / die Welt oder nur Ausschnitte dessen, / was Welt genannt werden will / wahrnehme, fällt auf, dass auch sie / ins Torkeln geraten, aus dem Gleichgewicht / und wie ich in Schieflage hinfällig ist.“

Darunter macht es ein Günter Grass nicht. Folglich ist „Eintagsfliegen“ zweierlei: die Versicherung der eigenen Bedeutung und Größe, selbst noch in den Momenten, da der Literaturnobelpreisträger von 1999 sich als „Komischer Alter“ beschreibt oder er „aus dem Abseits einen Ausruf“ tätigt. Und nach dem Gebrüder-Grimm-Buch, „Der Box“ und „Beim Häuten der Zwiebel“ ein weiteres, dieses Mal eher ungerichtet durch die Jahre schweifendes Erinnerungsbuch. In dem sollen durchaus „Gedichte als eines Lebens Bilanz“ stehen, darin darf aber auch ungeschützt und melancholisch die Mühsal des Alters beklagt werden. Das Gedicht „Kleine Versschule“ gehört dabei zur ersten Kategorie. Es antizipiert die Kritik am lyrischen Vermögen von Günter Grass, auf dass schließlich einem Schriftsteller seiner Größenordnung alles erlaubt sei. „Wo fängt Prosa an, wo hört Lyrik auf?“ fragt es zu Beginn der letzten Strophe. Die Antwort ist Schelte: „Vielleicht wissen beamtete Schriftgelehrte / oder das freischwebende Feuilleton, / ab wann die Erzählung rhythmisch stolpern, / das Gedicht episch wuchern darf.“

Tatsächlich ist Grass auch in seinen Gedichten vor allem Erzähler, nicht selten Aufzähler. In den allermeisten Fällen reichen ihm Zeilenbrüche und die Unterteilung in Strophen, um der Form zu genügen. Das lyrische Ich ist hier sowieso schnell als das Grass-eigene auszumachen, selbst dann, wenn er damit spielt („Ich bin und bin nicht“) oder in die zweite oder dritte Person wechselt. Gerade im letzteren Fall bekommt das Ganze natürlich etwas arg Lothar-Matthäus-haftes, von der eigenen Größe schwer Beeindrucktes.

Weil Grass seit jeher in seinen Gedichten alles Undeutliche und Verschwommene vermeidet, er sich immer am Gegenständlich-Konkreten orientiert, bieten sie ihm Gelegenheit, so manche Begebenheit aus seinem Leben Revue passieren zu lassen. Er erinnert sich an „der Ferien Sommerglück“ an der Ostsee, „der Krieg ist weit weg“, an die zwei inzwischen berühmten, noch immer in seinem Körper steckenden Splitter einer russischen Panzergranate, umherfliegend an Hitlers letzten Geburtstag („brachten mich um ein Achtel Mettwurst, / eine Rolle Fruchtdrops und sonstnochwas“), an die „Lebensmittel-und Kolonialwarenhandlung“ seiner Mutter, an verstorbene Freunde wie seinen Dichterkollegen Peter Rühmkorf oder seinen langjährigen Lektor Helmut Frielinghaus, an Heinrich Böll und Lew Kopelew. Oder er erzählt in den „halbwegs genauen Erinnerungen“ zum 85. Geburtstag des Freundes Andrzej Wirth von seiner ersten Polenreise nach dem Zweiten Weltkrieg. Er kommt nach Warschau, ist in Danzig auf der Spur seiner Kindheit, recherchiert für die „Blechtrommel“ und begegnet erstmals Marcel Reich-Ranicki, der glaubte, „in mir einen bulgarischen Agenten vermuten zu können“.

Es steckt also wirklich fast der ganze Grass in diesen zum Teil durchaus lesenswerten Gedichten (die nachlässig farbig übertuschten Zeichnungen der Fliegen sind viel schwächer); und da darf neben der „Kleinen Versschule“ die ultimative Kritikerbeschimpfung nicht fehlen: „Habt Geduld,/ ein Weilchen nur bleibe ich noch, / sichre Euch Lohn und wohltemperierte Stuben“, heißt es in dem Gedicht „An die Gemeinde meiner Feinde“. Es schließt mit der Strophe: „Ach, wie flüssig es Euch / und schlau von der Hand geht; / mir jedoch stockt schon wieder die Tinte.“ Ob man ihm das mit der stockenden Tinte wirklich glauben soll? Bei dem Zorn, der von keiner Altersmilde abgeschwächt wird? Vermutlich ist es nicht zuletzt dieser Zorn, der seine Lebens- und Schreibgeister wach hält.

Günter Grass: Eintagsfliegen. Gelegentliche Gedichte. Steidl Verlag, Göttingen 2012. 128 Seiten, 28 €

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