Skandal um sexuelle Belästigung: Der Fall Harvey Weinstein ist typisch für Hollywoods Doppelmoral
Die Enthüllungen um den Filmboss sind kein neues Phänomen. Die Traumfabrik vertritt zwar liberale Werte, verschließt aber die Augen vor Missbrauchsvorwürfen in den eigenen Reihen.
In der Goldenen Ära des Studiosystems war die Couch des Produzenten Darryl F. Zanuck einer der gefürchtetsten Orte in Hollywood. Zanuck, ein Mann von kleiner Statur, hatte eine unersättliche Gier – auf Frauen. Und er besaß die schlechte Angewohnheit, sich vor seinen weiblichen Angestellten zu entblößen.
Ein Mitarbeiter Zanucks wird in der Biografie der Schauspielerin Carole Landis so zitiert: „Gewöhnlich wurde einem Starlet ihr täglicher Einsatz zugeteilt, und es war selten dasselbe Mädchen zweimal. Die einzige, die mehr als einmal ins Büro gerufen wurde, war eine Vertragsschauspielerin namens Carole Landis, die den Spitznamen ,Studionutte’ hatte. Doch gewöhnlich wurde jeden Tag eine neue hübsche Statistin für die Sitzungen herausgepickt.“ Landis feierte unter Zanuck ihren großen Durchbruch bei der 20th Century Fox, doch ihre Karriere währte nur kurz. Am 5. Juli 1948 nahm sie sich im Alter von 29 Jahren das Leben. Solche Schicksale finden sich dutzendweise in Kenneth Angers Skandalbibel „Hollywood Babylon“.
Die aktuellen Enthüllungen der „New York Times“ um Harvey Weinstein, der am Sonntag vom Vorstand seiner Produktionsfirma, der Weinstein Company, wegen sexueller Belästigungen entlassen wurde, wirft noch einmal ein erhellendes Licht auf das Schicksal von Carole Landis. Ihr Name steht stellvertretend für die unzähligen, meist anonymen Frauen, deren Leidensgeschichten unter den Studiomogulen Darryl F. Zanuck, Louis B. Mayer und Harry Cohn, um nur einige aus der Liga der „Gentlemen“ des alten Hollywood zu nennen, nie an die Öffentlichkeit kamen. Hollywood war schon immer ein verschworener Haufen. „Hellfire Club“ nennt der Filmhistoriker Gregory Mank die Männerzirkel der US-Filmindustrie in Anlehnung an die englischen High-Society-Geheimbünde im 18. Jahrhundert.
Wenig scheint sich seitdem verbessert zu haben und dennoch überrascht die Skrupellosigkeit, mit der Weinstein 30 Jahre lang seine Libido auslebte, offenbar weitgehend ungehemmt. Wohlgemerkt: auch schon lange bevor er zu einer der einflussreichsten Figuren der US-Filmindustrie wurde. Womit sich die Frage stellt, ob schlechtes Benehmen und eine letztlich kriminelle Energie die Macht des Filmproduzenten befördert. Oder ob umgekehrt Machtstrukturen, wie sie in der Unterhaltungsindustrie und in jeder von Alphamännchen dominierten Branche vorherrschen, Persönlichkeiten wie die eines Harvey Weinstein oder eines Roger Ailes erst hervorbringen: Der Fox News-Chef musste kurz vor seinem Tod im Mai wegen Missbrauchsvorwürfen seinen Stuhl räumen. Das Phänomen ist ja keinesfalls neu, auch wenn sich manche Vorwürfe wie die gegenüber Regisseur Bryan Singer vor drei Jahren als falsch herausstellten.
Erstaunlicherweise wähnt man sich in den Glamour-Industrien – im Gegensatz etwa zur Automobilbranche – noch immer wie selbstverständlich auf der moralisch sicheren Seite. Ein klassischer Fall von Autosuggestion. Um das zu erkennen, muss man nicht einmal das Klischee des Hollywood-Moguls bemühen, das der physisch stattliche und stets dröhnende Harvey Weinstein bestens bedient. Das Problem reicht viel tiefer. Denn Hollywood hat, wie jede Branche, in der eine große Machtkonzentration mit einem komplizierten Netzwerk unterschiedlichster Interessen einhergeht, bemerkenswerte Selbstschutzmechanismen entwickelt.
Die Anschuldigen kursierten seit Jahren
Nur einige wenige Kolleginnen und Kollegen wie Meryl Streep, Judi Dench, George Clooney, Judd Apatow und Kevin Smith haben sich bislang zu Weinstein geäußert – wo ist Quentin Tarantino, wenn man ihn braucht? Er hat fast alle seine Filme mit Weinstein realisiert – und beteuern, wie „schockiert” und „entsetzt“ sie über die Vorwürfe seien. Das klingt allerdings ein wenig nach Scheinheiligkeit oder nach sträflicher Naivität. Das Temperament des Produzenten gegenüber Untergebenen ist legendär, es wurde in der Figur des cholerischen Produzenten Harvey Weingard in der Fernsehserie „Entourage“ sogar augenzwinkernd verewigt. Auch die Anschuldigungen wegen sexueller Übergriffe kursieren seit Jahren.
Am Montag trat die Journalistin Sharon Waxman, Gründerin des Branchenportals „The Wrap“, mit dem Vorwurf an die Öffentlichkeit, die „New York Times“ habe im Jahr 2004 einen Artikel von ihr über Weinstein zurückgezogen – angeblich wegen ungenügender Recherchen. Die nötige Infrastruktur für weitere Belege hätte ein Medienunternehmen wie die „Times“ locker bereitstellen können, wäre man ernsthaft an einer Veröffentlichung interessiert gewesen. Dass sich laut Waxman ausgerechnet Matt Damon, der Posterboy des liberalen Hollywood, für die Nichtveröffentlichung des Artikels eingesetzt haben soll, verrät einiges über die Abhängigkeitsverhältnisse in der amerikanischen Filmbranche. Und es ist bezeichnend, dass die Vorwürfe zu einer Zeit an die Öffentlichkeit kommen, in der das Weinstein-Imperium seinen Zenit überschritten hat und der Einfluss des Moguls schwindet. Ähnliches ließ sich schon im Prozess gegen Bill Cosby beobachten. Man wird sehen, wie lange Woody Allen von ähnlich weitreichenden Enthüllungen noch verschont bleibt.
Philantropie und Frauenfeindlichkeit - zwei Seiten der gleichen Medaille
Harvey Weinsteins Philantropie – die er in seinem wachsweichen Entschuldigungsschreiben („Ich bin ein Kind der sechziger Jahre ...“) selber erwähnt –, sein politisches Engagement für Hillary Clinton und seine Förderung einer Dozentenstelle, die der feministischen Publizistin Gloria Steinem gewidmet ist, stellen keinen Widerspruch zu seiner Frauenfeindlichkeit dar. Es sind im Gegenteil zwei Seiten der gleichen Medaille – und ist typisch für die gesamte Branche, die vor sexuellem Missbrauch im eigenen Betrieb die Augen verschließt und gleichzeitig das Kirchenmissbrauchsdrama „Spotlight“ mit dem Oscar auszeichnet. Wer ernsthaft glaubt, dass die Enthüllungen um Harvey Weinstein eine Veränderung in Hollywood bewirken, hat aus der Vergangenheit nichts gelernt.
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