Im Kino: "Spotlight": Die Unschlagbaren
Tom McCarthys Realo-Thriller „Spotlight“ feiert den Investigativjournalismus - und ist für sechs Oscars nominiert.
Zum Beispiel Marty Baron. Liev Schreiber spielt den 2001 vom „Miami Herald“ frisch zum „Boston Globe“ gewechselten Chefredakteur unglaublich ökonomisch: durchdringend leise und in der Sache eisenhart. Als er erfährt, dass die Redaktion sich angesichts eines lokalen Missbrauchsfalls in der katholischen Kirche mit zwei Berichten darüber zufrieden geben will, setzt er in aller Ruhe und Entschiedenheit das kleine, seit Monaten mit anderweitigen Recherchen befasste Investigativteam Spotlight auf den Fall an. Kurzes Grummeln der Journalisten: Was will der Neue bloß? Und dann wächst sich das aus bis zur Aufdeckung eines Riesenskandals in Boston, in den USA, in der ganzen Welt. Und 2003 kriegt das Team dafür den Pulitzerpreis.
Große, alte Zeit!
Was Tom McCarthys faszinierend schmuckloser, geradliniger, spannender Film „Spotlight“ erzählt, ist alles weitgehend so passiert. Die Schauspieler tragen die Klarnamen der Investigativjournalisten Sacha Pfeiffer, Mike Rezendes, Walter Robinson und Matt Carroll, und auch Marty Baron, diesen schlicht bewunderungswürdig seine Leute motivierenden Chefredakteur, gibt es wirklich. Baron, der den „Boston Globe“ von einer üblichen, zuvörderst auf nationale und internationale Themen ausgerichteten Zeitung in ein schlagkräftiges lokales Investigativblatt verwandelt hat, mischt – mit dem Rückhalt des Milliardärs und Amazon-Gründers Jeff Bezos – als Chefredakteur seit gut drei Jahren die „Washington Post“ auf. Jene Zeitung, die einst den Watergate-Skandal aufdeckte und über deren Ruhmestat vor mittlerweile 40 Jahren der Film „All the President’s Men“ („Die Unbestechlichen“) ins Kino kam. Große, alte Zeit!
Oder reden wir von „Robbie“, dem Spotlight-Teamchef, den Michael Keaton so kraftvoll spielt. Er treibt die Recherche voran, lobt seine Leute – und hat doch mit einem schlechten Gewissen zu kämpfen. Fast zehn Jahre früher, da war er noch Lokalchef, hatte er die Skandalgeschichte schon fast in der Tastatur, sie aber dann nicht weiterverfolgt. Vielleicht weil er Katholik ist im sehr katholischen Boston, vielleicht weil er Bostoner ist und alle ihm zuraunen: Dieser Marty Baron ist bestimmt eines Tages weg, aber was ist mit dir, Robbie? Da braucht es jemanden wie Baron, der die Beichte dieses Gewissensbisses registriert, beruhigend abhakt und cool nach vorne schaut. Ach, 53 Prozent Katholiken in Boston? Dann dürfte die Bostoner die Story wohl interessieren.
Rausgehen, Klinkenputzen, Quellen skrupulös recherchieren
Ja, sie hatten die Geschichte vor der Flinte in den Neunzigern, aber sie haben sie verbaselt. Deswegen wollen Missbrauchsopfer erst nicht mit den Spotlightleuten sprechen, deswegen lässt auch der Opferanwalt Mitchell Garabedian, mit unwiderstehlicher Strenge und Wärme gespielt von Stanley Tucci, den Reporter Mike Rezendes erst abblitzen, da mag der sich noch so hartnäckig in seine Kanzlei drängen – und, keine Überraschung, auch Mark Ruffalo verkörpert diesen durchsetzungsfähigen und moralisch integren Journalistentyp so hinreißend, dass selbst gestandene Filmredakteure bei der Besichtigung dieser Kinofigur kurzfristig über einen Berufsbinnenwechsel nachdenken. Und erst Rachel McAdams als Sacha Pfeiffer: Wie sie die vom Missbrauch verbogenen Männer so sensibel interviewt, dass die Gesprächspartner zaghaft darauf zu vertrauen beginnen, dass ihr Vertrauen diesmal nicht enttäuscht wird!
Die Wühlarbeit führt nicht sofort zum Erfolg
Rausgehen, Klinkenputzen, Quellen skrupulös recherchieren, Puzzle für Puzzle ein Bild zusammensetzen, verlässlich Vertrauen bilden bei den Opfern und ihren Fürsprechern, unbeugsam bleiben gegenüber den teils subtil agierenden Einschüchterern, ja, auch rund um die Uhr erreichbar sein: All das gehört zu den Qualitäten, die das Spotlight-Team auszeichnen. Aber es braucht auch die Geduld der Vorgesetzten damit, dass eine solche Wühlarbeit nicht sofort zum Erfolg führt. Und überhaupt die Risikobereitschaft eines Verlags, auch mal einen im Nichts endenden Aufwand zu finanzieren.
All dies ist die eine, mitreißende Seite dieses Films: wie er einen (Print-)Journalismus feiert, den sich heute kaum ein Unternehmen mehr leistet. Die andere, und sie ist perfekt mit der einen verknüpft, ist der Gegenstand der journalistischen Aufdeckungsarbeit. Denn der hier so imponierend aufs Podest gestellte Journalismus dient ja, wie jeder gute Journalismus, einem höheren Ziel. Hier ist es die Zerstörung eines bösen Tabus, der Sturz der verbrecherischen Verantwortlichen, die – pathetisch gesprochen – gesellschaftliche Selbstbefreiung.
"Spotlight" ist für den Oscar ordentlich im Rennen
Ein knappes Jahr konnte sich der Bostoner Kardinal Bernhard Law – mit seiner scheinliebenswürdigen Bedrohlichkeit in der Verkörperung von Len Cariou eine geradezu archetypische Figur – noch halten, bevor er, als oberster Vertuscher des Skandals, zurücktreten musste. In der Folge wurde bekannt, dass die katholische Kirche allein in den USA, wo aus über 100 Städten Fälle von organisiertem Missbrauch bekannt wurden, über eine Milliarde Dollar Schweigegeld an Betroffene gezahlt hatte. Und wohl auch die weltweite Aufmerksamkeit für das Thema wäre ohne die Hartnäckigkeit des „Boston Globe“, der auf die erste Enthüllungsgeschichte Hunderte von Artikeln folgen ließ, nicht denkbar.
Wenn es in der Nacht zum Montag um die Verleihung der Oscars geht, ist „Spotlight“ mit seinen sechs Nominierungen ordentlich im Rennen. Als Favorit gilt, wie man weiß, Alejandro González Iñárritus Eis-Western „The Revenant“. „Spotlight“ mag nicht derart oberflächenspektakulär sein, aber er ist kein Stück weniger unterhaltsam und spannend als „The Revenant“ und die sechs anderen Konkurrenten. Nur wichtiger.
Ab Donnerstag im Cinemaxx, Cubix, Cinestar Treptower Park, Colosseum, Toni und Zoo-Palast; OV im Cinestar SonyCenter; OmU im Eva, Passage, Central, Filmkunst 66, Filmrauschpalast und in der Kulturbrauerei
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