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Das Gefühl, alle Blätter zu verlieren.
© imago/DRAMA-Berlin.de

Theatererfolg "Der Vater": Der Entwurzelte

Im Exil der Demenz: Florian Zellers Erfolgsstück „Der Vater“ unter der Regie von Guntbert Warns am Renaissance-Theater.

Der Vater wirkt, als wäre er ein „beschädigtes Transistorradio, das nach heftigem Schütteln entweder wieder laut und deutlich funktionierte oder nichts als statistisches Rauschen ausspuckte“. So beschreibt der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen in seinem Roman „Die Korrekturen“ die fortschreitende Demenz seines Protagonisten Alfred. Viele große Schriftsteller haben ja schon über dieses Abdriften ins Vergessen geschrieben, oft durch den eigenen Verlust eines nahen Menschen angestoßen.

Inge Jens verarbeitete die Erkrankung ihres Mannes Walter in dem Buch „Langsames Entschwinden“, der österreichische Schriftsteller Arno Geiger hat von der Alzheimer-Verkümmerung seines Vaters in „Der alte König in seinem Exil“ erzählt. Das sind sämtlich berührende literarische Zeugnisse. Sie vermitteln, was es bedeutet, wenn eine geliebte Person sich allmählich in einen Fremden verwandelt. Was sie freilich nicht vermögen: einem die Welt eines Demenzkranken aufzuschließen, dem die Erinnerungen mehr und mehr entgleiten.

Genau diesen Versuch aber unternimmt der französische Autor Florian Zeller in seinem Stück „Der Vater“. Er versetzt den Zuschauer konsequent in die Perspektive von André, der als pensionierter Ingenieur immer mehr aus der Bahn seines Bewusstseins rutscht. Der in einem Zustand angelangt ist, wie auch Inge Jens ihn beschreibt: Da steht ihr Mann vor dem jahrzehntelang vertrauten Porträt von Theodor Fontane und fragt auf einmal, wer dieser Herr mit dem Schnauzbart bitteschön sei?

Zellers Stück ist ein internationaler Hit

Florian Zellers Stück ist ein internationaler Hit, am Broadway lief es unlängst noch mit Frank Langella in der Titelrolle. Die Gründe für diesen Erfolg sind vielfältig, einer davon ist, dass Zeller sich nicht scheut, auch die schreckliche Komik zu bedienen, die mit dem Gedächtnisverlust einhergeht. Am Renaissance-Theater, in der Regie von Guntbert Warns, spielt Walter Kreye den André, der sich selbst vorgaukelt, geistig noch komplett auf der Höhe zu sein. Obschon er natürlich spürt, dass die Dinge für ihn gewaltig aus dem Ruder laufen.

Tatsächlich unterhält er sich in einem Moment mit seiner Tochter Anne (Anna Thalbach) über deren Pläne, nach London zu ziehen. Im nächsten erscheint sie ihm vollkommen verwandelt, will von England nie was gehört haben. Und das Essen, das sie doch zubereiten wollte, wird auch nie fertig. „Du hattest doch ein Huhn in der Hand, noch vor einer Minute? Ein Huhn!“, erregt sich André.

Walter Krey ist hinreißend

Zeller sprengt die Chronologie, lässt verschiedene Schauspieler in der gleichen Rolle auftreten, um uns durch die Augen des Demenzkranken blicken zu lassen. Annes Mann Pierre (Ingo Naujoks) zum Beispiel erscheint plötzlich in junger Gestalt (Niels Bruno Schmidt), die eigene Tochter dagegen von einer Szene zur nächsten um Jahre gealtert (Sabine Wegner). Es sind Schlaglichter auf eine geistige Umnachtung, die sich mit unerbittlicher Geschwindigkeit ausdehnt. Im stückdienlich kargen Bühnenbild aus grauen Wänden und ein paar wenigen weißen Möbeln (Momme Röhrbein) erleben wir mit André, was es heißt, dem eigenen Verstand nicht mehr trauen zu können. Geschenkt, dass es dabei Grenzen gibt – Florian Zeller ist nicht Romeo Castellucci, der in seinem Stück „Über das Konzept des Angesichts bei Gottes Sohn“ mal die Demenz als Orgie aus Kot und Verzweiflung ausspielen ließ.

Guntbert Warns behandelt den Text, der seine deutschsprachige Erstaufführung in der Regie von Ulrich Waller mit Volker Lechtenbrink in der Titelrolle am St. Pauli Theater erlebt hat, mit hoher Sensibilität und Sinn für die Abgründe des Tragischen, Komischen und Banalen, die sich hier allmählich zu erkennen geben. Es ist die beste Inszenierung, die seit langem am Renaissance-Theater zu sehen war.

Freilich auch wegen Walter Kreye, der in einem guten Ensemble als Hauptdarsteller eine hinreißende Leistung bietet. Die Rolle könnte zum Auftrumpfen verführen, zur Wirkungswut. Kreye aber bleibt meist leise, nuanciert. Umso berührender, wenn der Entwurzelte in einem seltenen Moment von Erkenntnis sagt: „Ich habe das Gefühl, dass ich alle meine Blätter verliere“.
wieder am: 5., 8., 9., 11. bis 14. und 16. Oktober

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