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Walter Jens in seinem Haus 2003
© dpa

Im Exil: Zum 90. Geburtstag von Walter Jens

Walter Jens war ein brillanter Rhetoriker und scharfer Denker. Doch in der Welt, in der er jetzt lebt, ist es einsam. Walter Jens leidet an Demenz. Am Freitag wird er 90 Jahre alt.

Auf die Frage, wie es ihrem Mann gehe, hat Inge Jens dieser Tage in einem dpa-Interview gesagt: „Er schläft sehr viel, er erkennt meistens niemanden mehr. Trotzdem scheinen ihm einige Personen atmosphärisch noch vertraut zu sein. Manchmal machen wir ihm den Fernseher an, damit er sich Fußball anschauen kann. Was er davon sieht und begreift, wissen wir nicht. Er scheint eine Zeit lang richtig aufzuleben. Doch sein Zustand ändert sich schnell. Er hat vergessen, wie man isst.“

Der homme de lettres Walter Jens hat, so muss man annehmen, alles vergessen. Schon lange ist bekannt, dass er an Demenz leidet. Die Krankheit ist nicht heilbar, sie tötet langsam. Sie tötet jegliches soziale Verhalten ab. Sie hat Walter Jens, den Rhetorikprofessor, den Publizisten, den früheren Präsidenten der Berliner Akademie der Künste, den vielfach Ausgezeichneten, stumm gemacht. Aber gefühllos? „Wir können nicht reingucken in seinen Kopf, und er kann uns seit vielen Jahren schon nicht mehr sagen, was in ihm vorgeht. Für Außenstehende ist es ein trauriges Dasein. Ich kann nur hoffen, dass es für ihn selbst nicht so traurig ist“, sagt die ihn umsorgende Ehefrau mit bewundernswerter Ruhe. Und dann spricht sie Worte aus, die einer griechischen Tragödie entstammen könnten, voller Menschlichkeit und intellektueller Klarheit: „Was lebt, will leben. Und er will ganz offensichtlich noch leben. Denn Möglichkeiten zu sterben hätte er im letzten Vierteljahr genügend gehabt. Er ist ein paar Mal sehr schwer krank gewesen, hat sich aber ohne viel Zutun immer wieder erholt.“

Was lebt, will sprechen, hören, schmecken, kommunizieren. Was lebt, will nicht vergessen sein. Aber eben das geschieht. Viele haben Walter Jens vergessen. Auch dass es vor einigen Jahren eine große Aufregung gab um das Buch seines Sohnes Tilman Jens („Demenz. Abschied von meinem Vater“) – eine Debatte von gestern. Der Sohn hatte die Krankheit gleichsam als Fortsetzung der lückenhaften Erinnerung des Vaters an die Nazi- und Kriegszeit beschrieben. Aber was lebt, will auch vergessen, wenn schon nicht bewältigen: das Schreckliche, die gestohlene Jugend, die Sünde. Wenn sich denn einer etwas vorzuwerfen hat.

Am heutigen Freitag feiert Walter Jens in Tübingen seinen 90. Geburtstag. Nein, er kann nicht mehr feiern. Es werden ein paar Freunde kommen, sagt Inge Jens, es wird einen Geburtstagskuchen geben. Rituale sind wichtig für Menschen, für Demenzpatienten erst recht. Rituale geben Halt, wo sonst kaum Halt mehr ist.

„Man merkt gerade beim Schreiben, wie zerbrechlich alles ist, wie vieles vergangen ist und nicht wiederkommt. Und doch ist es auch ein Festhalten, wenn ich all das aufschreibe.“ Sätze von Arno Geiger. Er hat seinem Vater mit dem Buch „Der alte König in seinem Exil“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Es wurde ein Bestseller. Weil die Menschen immer älter werden, weil Demenz immer mehr Menschen trifft. „Was lebt, will leben.“ Über diese Worte nachzudenken, über das Geheimnis, das in ihnen steckt – das wäre vielleicht ein Geburtstagsgruß, der ankommt, wo er gebraucht wird, in der Nähe, in der Ferne.

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