Interview: Arno Geiger: "Auch das Glück gehört zur Demenz"
Arno Geiger über die Erkrankung seines Vaters und die Kunst, einen literarischen Text darüber zu schreiben.
Herr Geiger, am Ende des Buchs über Ihren demenzkranken Vater heißt es, Sie hätten sechs Jahre darauf gespart. Was meinen Sie damit?
Ich habe den ersten Text über seine Erkrankung 2004 geschrieben. Der basierte auf einem Satz, den mein Vater sagte, als wir zu Hause saßen: „Jetzt wäre nur noch interessant zu erfahren, wer mich nach Hause bringt“. Ich fragte ihn: „Wie sieht es bei dir zu Hause eigentlich aus?“ Und er: „Ähnlich wie hier, aber doch anders.“ Darüber habe ich den Text geschrieben, der dann mehr von mir handelte, nicht so direkt von ihm. Aber ich spürte damals, dass seine Krankheit mehr und mehr zum Hintergrund meines Denkens wird. Ich war in einer sehr dynamischen Situation. Danach hatte ich lange keinen festen Punkt, von dem aus ich schreiben konnte.
Wann hatten Sie diesen festen Punkt?
Vor etwa zwei Jahren, nach einem weiteren Text, diesmal für die „FAS“. Ich hatte ihn vorher meiner Mutter und meinen Geschwistern gezeigt, die dann sagten: Es ist gut, dass du das aufschreibst. Ich habe sehr lange gebraucht, um mich auf die Krankheit meines Vaters einzustellen.
Wie verlief da die Entwicklung?
Zunächst hatte ich Angst, es war der reine Horror. Ich sah vor allem die Verluste, beim Vater, den Verlust seiner kognitiven Funktionen. Wir hatten immer wieder Auseinandersetzungen, weil ich nicht wahrhaben wollte, dass er selbstverständlichste Dinge nicht mehr kann. Irgendwann aber solidarisierte ich mich mit ihm. Sich in der eigenen Existenz fremd zu fühlen, das ist etwas grundsätzlich Menschliches. Die Welt bleibt auch mir stets ein wenig fremd. Seither konzentriere ich mich mehr auf das Vorhandene bei ihm.
Was ist denn noch vorhanden?
Auch wenn er oft wirr redet, man keinen Zugang zu ihm findet, hat er plötzlich klare Momente, Zugriff auf seine Intelligenz. Er ist ja ein kluger, witziger Mann, und er reflektiert in solchen Momenten seinen Zustand, den Grad seiner Erkrankung. Er weiß, was mit ihm passiert, und das sind ganz konsistente Gespräche.
Blieben trotz der Zustimmung ihrer Familie keine Skrupel? Hatten Sie nicht das Gefühl, Ihren Vater öffentlich zu entblößen?
Ich hatte Berührungsängste, das war alles ein langsames Vorantasten. Aber allein der „FAS“-Text erhöhte die Lebensqualität meines Vaters. In seinem Heimatort wussten nun alle Bescheid, man konnte ihm selbstverständlicher entgegentreten. Die Befangenheit war weg. Ich habe seiner Demenz, von der viele nur vage wussten, ihre negative Aura genommen. Und wie gesagt: Ich schreibe viel über das, was bei ihm noch vorhanden ist. Zudem erzähle ich von einem Mann mit einem langen Leben, von der ganzen Person, nicht nur von einem kranken Menschen. Das wäre nicht fair ihm gegenüber.
Trotzdem hat man den Eindruck, Sie überhöhen die Demenz manchmal. Wenn Sie etwa von der „Berührung mit dem magischen Potential der Wörter“ schreiben, Sie ihn um seine Ausdrucksweise beneiden.
Das ist halt der Ausdruck meiner Bewunderung! Ich habe eine große Liebe zur Sprache, von Berufs wegen. Ich freue mich auch darüber, dass mein Vater zwar dement, aber deshalb noch lange kein Depp ist. Es ist mein gutes Recht, Freude darüber zum Ausdruck zu bringen! Darüber, dass er auf seiner Pflegestation plötzlich einem Mitpatienten, dem es viel schlechter geht als ihm, über den Kopf streichelt und gut zuredet. Das macht er so selbstverständlich, das kommt aus so tiefem Herzen, da gefällt er mir einfach.
Besteht aber nicht auch die Gefahr der Verharmlosung der Erkrankung?
Ich wollte kein Buch schreiben, das Ängste schürt. Meine eigenen Ängste waren schlechte Ratgeber. Wir haben gelernt: Glück ist weiterhin möglich. Krankheitsverläufe bei Demenz sind sehr unterschiedlich. Manche Verläufe lassen das, was uns passiert ist, nicht zu. Zum Glück gab und gibt es bei uns viele schöne Momente, und darüber wollte ich schreiben, auch das kann zur Demenz dazugehören.
Haben Sie Demenz-Fachliteratur gelesen?
Nein. Das hätte ich am Anfang wohl tun sollen. Ich bin der Krankheit hinterhergestolpert. Ich war unfähig, mir ein komplexes Bild zu machen, unfähig meinen Vater zu verstehen. Ich wollte ihn rausreißen aus seiner Lethargie, habe ihm immer gesagt, was er wieder falsch macht, was für Quatsch er redet. Dabei brauchte er Zustimmung, Geduld, eine Stütze im Alltag – keinen Besserwisser an der Seite.
Kennen Sie andere Bücher über die Demenz? Das von Tilman Jens über seinen Vater Walter Jens oder Katharina Hackers Roman „Die Erdbeeren meiner Mutter“?
Die wollte ich nicht lesen. Als diese Bücher erschienen, war ich sozusagen über den Berg und in der Praxis im Umgang mit meinem Vater schon sehr stabil. Ich wollte mich auf diese Bücher weder beziehen noch von ihnen beeinflussen lassen. Jonathan Franzens Essay „Das Gehirn meines Vaters“ habe ich gelesen, der hat mir aber nicht sonderlich gefallen.
Warum nicht?
Weil Franzen zu viel Fachliteratur gelesen hat und sie referiert.
Ihr Buch ist für den Leipziger Buchpreis nominiert, in der Kategorie Belletristik, darunter steht es auch in den Bestsellerlisten. Inwiefern ist es ein literarischer Text?
Ich würde es „autobiografische Erzählung“ nennen. Es ist ein literarischer Text, ich erzähle von dem, was uns passiert ist. Jedes Buch braucht Auswahl, eine Anordnung. Ich schreibe seit über zwanzig Jahren Literatur. Ich übe ein Handwerk aus, da wende ich meine Erfahrungen als Schriftsteller bewusst und unbewusst an.
Dazu gehört auch immer wieder der Bezug auf die Weltliteratur.
Ja, ich habe meinen Vater lange genug unterschätzt, als er krank geworden ist. Ich habe dann versucht, ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Wenn er sagt: „Mir ist alles unverständlich“, finde ich das sehr reflektiert. Bei Thomas Bernhard haben bei so einem Satz alle Hurra geschrien. Mein Vater steht gleichberechtigt daneben, er darf nicht als Demenzkranker abgeurteilt werden. Auch bei ihm kommt das aus einer existenziellen Befindlichkeit heraus. Wir schätzen Kafka oder Bernhard dafür, dass sie tief in die existenziellen Probleme der Menschheit verstrickt sind. Mein Vater ist das auch. Natürlich ist das nur bedingt vergleichbar. Das eine ist literarische Metapher, das andere gelebtes Leben.
Zu ihren unbewussten literarischen Anwendungen gehören wohl Sätze, die schon in ihrem Roman „Es geht uns gut“ standen. Ihr Schlusssatz „Wer lange genug wartet, kann König werden“ findet sich dort. Oder der Satz Ihres Vaters „Der Finger in der Nase dichtet auch“. Den sagt in „Es geht uns gut“ eine andere Figur.
Das war mir nicht bewusst. Vielleicht sollte man seine früheren Bücher öfters lesen. Aber der Satz mit dem dichtenden Finger in der Nase ist autobiografisch, er stammt von meinem Vater und begleitet mich. Virginia Wolff sagt: Man schreibt nicht mit dem Finger, sondern mit der ganzen Person. Ich war, als ich „Es geht uns gut“ schrieb, ein erfolgloser Schriftsteller. Nur liest man dieses Buch heute nicht mehr so, weil es den Deutschen Buchpreis bekommen hat. Jedes meiner Bücher ist ein wenig autobiografisch. Es gibt Dinge, die immer wieder hochkommen.
Das Schlusskapitel Ihres Buches besteht vor allem aus Sentenzen und Aphorismen, wie „Das Glück, das mit der Nähe zum Tod eine besondere Dichte erhält. Dort wo wir es nicht erwartet hätten“. Warum?
Ich wollte am Ende weg vom Erzählerischen und trotzdem mir wichtige Dinge sagen. Diese Erkrankung ist sehr existenziell, nicht nur für den Vater, sondern auch für sein Umfeld, seine Angehörigen.
Ist das Buch nicht auch ein Abschied von Ihrem Vater?
Sicher, man merkt gerade beim Schreiben, wie zerbrechlich alles ist, wie vieles vergangen ist und nicht wiederkommt. Und doch ist es auch ein Festhalten, wenn ich all das aufschreibe.
Ihr Buch ist ungemein erfolgreich, was sicher am Thema liegt. Ist die Demenz noch immer ein gesellschaftliches Tabu?
Es war früher extremer, da wurden die Dementen versteckt, es gab keinen gesellschaftlich anerkannten Umgang, das ist viel besser geworden. Trotzdem: Wenn einer am Herzen operiert wird, erzählt er jedem davon. Das funktioniert gut, das ist Technik. Bei der Demenz herrscht immer noch eine große Befangenheit. Es gibt, so individuell meine Geschichte ist, ein großes Bedürfnis nach einem entspannten Umgang mit der Erkrankung. Dass man ins Restaurant gehen kann und Rücksicht genommen wird, wenn ein Demenzkranker mit am Tisch sitzt. Selbstverständlich ist das noch nicht. Es sind ja die Angehörigen, die mit dem Erkrankten zurückbleiben. Sie haben das Bedürfnis, die von der Erkrankung Betroffenen einfach schätzen und lieben zu dürfen.
– Das Gespräch führte Gerrit Bartels.
Arno Geiger, 1968 in Vorarlberg geboren, gehört seit seinem Roman Es geht uns gut zu den wichtigsten Autoren seiner Generation. Der Roman wurde 2005 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Es folgten die Erzählungen Anna nicht vergessen und der Roman Alles über Sally. Der alte König im Exil (Hanser Verlag), das Buch über seinen demenzkranken Vater, steht auf Platz 2 der Bestsellerlisten. Es ist für den Leipziger Buchpreis nominiert, der am 17. März bei der Leipziger Buchmesse verliehen wird.
Arno Geiger lebt in Wien und Wolfurt in Vorarlberg, wo er aufgewachsen ist. Dort ist sein Vater in einem Pflegeheim untergebracht.
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