Bilder der Flucht in der Berliner Gemäldegalerie: Der Engel drängt zum Aufbruch
Josef, Maria und Jesus sind auf der Flucht vor dem Tyrannen Herodes: Was für tausende Familien heute täglich Realität ist, hat die Kunstgeschichte schon vor Jahrhunderten auf biblischer Basis ausgesponnen.
Das Leben des Kindes ist nicht mehr sicher. Denn ein unberechenbarer Staatschef lässt, in seiner Macht bedroht, seinem Killerinstinkt freien Lauf. Also bloß weg hier. Aber wohin? Vorerst lautet der Plan nur: Aufbruch und Flucht. Sichere Zonen anpeilen. Grenzen queren. Zur Not übers Meer. Was für tausende Familien täglich Realität ist, hat die Kunstgeschichte schon vor Jahrhunderten auf biblischer Basis ausgesponnen – zu Bildergeschichten, Fantasiereisen, virtuosen Touren auf Papier. In den Hauptrollen ziehen durchs Bild: Josef (Vaterschaft nicht gesichert), Maria (Erstgebärende) und Jesus (Säuglingsalter). Nicht sichtbar, aber Verursacher des Ganzen: Herodes (skrupelloser Herrscher). Als Transportmittel stehen bereit: ein Esel und die eigenen Füße. Also los. Bewegung! Abmarsch.
Eine Ausstellung des Kupferstichkabinetts in der Gemäldegalerie folgt den Fliehenden in zwei Dutzend Radierungen aus dem 17. und 18. Jahrhundert von Claude Lorrain bis Francisco Goya. Den Fokus legt sie auf zwei Meisterzyklen. Der erste, der das Thema zu einer Serie ausspann, war Sébastien Bourdon. Sein Roadmovie startet abrupt: Mitten im Schlaf schreckt ein Engel die Familie auf und drängt zur Flucht. Wild wehende Gewänder spiegeln die Dramatik des Moments. Im nächsten Blatt wird das Nötigste zusammengerafft, schon zupft der Engel Josef am Mantel, keine Zeit zu verlieren. Eine befestigte Stadt passieren die Fliehenden unbemerkt. Hier wohnen die, die noch sicheres Obdach haben. Kurze Rast, dann setzt sich die Karawane wieder in Bewegung.
So eine Flucht kann dauern. Tiepolo erweiterte die Story auf 27 Szenen, zehn haben die Kuratoren ausgewählt. Diese „Idee pittoresche sopra la fuga in Egitto“ von 1753 sind ein Meisterstück fein gestrichelter Variationen über das Thema der Flucht, italienisch „Fuga“. Tiepolo reiht verdichtete Einzelmomente hintereinander, spielt Möglichkeiten durch und erlaubt sich alogische Anschlüsse. Gerade diese Freiheiten schätzte man im neuen Genre des Capriccio.
Flackerndes Helldunkel und windbewegte Palmen, ja allein schon der variable Strich Tiepolos erzeugt unterschwellig ein Gefühl von Beunruhigung. Szene für Szene macht der Künstler das Unterwegssein anschaulich. Als die kleine Familie zu Beginn durch einen gewaltigen Torbogen die Stadt Bethlehem verlässt, bleibt gaffend die Meute der Einwohner zurück. Später treibt ein Hirte, als die Familie vorüberzieht, rasch seine Schafe zusammen und versteckt sich argwöhnisch hinter einem Baum. Dann stehen die Emigranten plötzlich am Ufer, kein Weg führt übers Wasser. Nur ein schwankendes Boot kann die geflüchtete Familie weiterbringen. Wird es halten? Zögernd steigt Maria mit ihrem Kind an Bord. Der Betrachter weiß ja, dass die Geschichte gut ausgeht. Das Kind überlebt, die Eltern auch.
Aber Tiepolo spendiert kein strahlendes Happy End. Als sich die Ankömmlinge ihrem Ziel, der rettenden Stadt, nähern, wenden sich die Bewohner kühl ab. Nur eine Frau beäugt die Ankömmlinge misstrauisch über die Schulter. Maria hüllt sich fester in ihren Mantel. Josef blickt ungerührt. Er weiß: Es gibt vorerst keine Alternative.
Gemäldegalerie, Kulturforum, bis 24. April; Di–Fr 10–18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Sa /So 11–18 Uhr.
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