Kultur: Die Welt ist ein Maskenball
So viel Goya hat man in Berlin seit Jahrzehnten nicht gesehen: Eine Ausstellung zeigt sämtliche Blätter seiner Graphikzyklen
Das Mädchen sieht aus wie eine Dame, der Mann könnte ein Herr sein. Ihr Kleid ist aus Seide, die Füße stecken in zierlichen Schuhen. Seinen Rock zieren Stickereien, der Degen verweist auf hohe Herkunft. Sie lächelt im Vorübergehen, er beugt sich tief zu ihr hinab. Aug’ in Aug’ stehen sie sich gegenüber: Dies müsste der Moment des Erkennens sein, die Sekunde, nach der nichts mehr sein wird, wie es war. Aber die Dame und der Herr tragen venezianische Masken vor den Gesichtern, ihr Gebaren ist eine einzige Maskerade. Zwei Riesen mit grotesken Spitzhüten beäugen aus dem Halbdunkel des Hintergrunds das Paar, zu ihren Füßen schläft ein Betrunkener. Unter der Szene steht: „Nadie se conoce.“ Niemand kennt sich.
Die karnevalistische Begegnung findet sich auf dem 6. Blatt von Goyas „Caprichos“. Es gibt 80 dieser Caprichos, und es ist immer wieder dasselbe Thema, das Goya hier mit unerschöpflicher Fantasie variiert: die Eitelkeit, Ignoranz und Tölpelhaftigkeit des Menschen. Zu seiner Bilderfolge hat er einen Kommentar geschrieben, der sich im Madrider Prado befindet. Über Capricho 6 heißt es: „Die Welt ist eine Maskerade, das Gesicht, die Kleidung, die Sprache, alles ist vorgespielt. Alle wollen etwas vorgeben, was sie nicht sind. Alle legen einander rein und niemand kennt sich selbst.“ Francisco de Goya (1746–1828) befand sich an einem dramatischen Wendepunkt seines Lebens, als er 1797/98 in schneller Folge die Caprichos schuf, die Arbeit an den Radierungen war auch eine Krisentherapie.
Der „Pintor del Rey“, Maler des Königs, war infolge einer schweren Erkrankung völlig ertaubt, er konnte keine Aufträge für das Heerscherhaus mehr ausführen, legte sein Lehramt an der Akademie nieder und zog sich zurück, um fortan „Erfindung und Einfall“ freien Lauf zu lassen. Die Entwürfe für die Blätter übertrug er, indem er die befeuchteten Zeichnungen auf die Druckplatten presste und dadurch einen Abklatsch erhielt. „Rembrandt und die Natur“ seien seine Lehrer gewesen, hat Goya gesagt. Strichel-, Kaltnadel- und Aquatintatechniken beherrschte er meisterlich, trotzdem wirken seine Radierungen wie spontan hingeworfen. Aus den posenhaften Arrangements des Barocks kam Goya mit seinen Graphiken sozusagen direkt in der Moderne an. Das macht bis heute die Attraktivität der Caprichos aus.
Seiner Gegenwart war Goya mit dem Radierzyklus so weit voraus, dass er ihn Kopf und Kragen hätte kosten können. Der Habsburgerkönig Karl IV. herrschte als spätabsolutistischer Sonnenkönig über seine bitterarmen, auf dem Lande oftmals hungernden Untertanen, die Inquisition überwachte die Einhaltung der katholischen Glaubenssätze mit Folter und Terror. Goya, der mit den Ideen der französischen Revolution sympathisierte, kündigte am 6. Februar 1799 im „Diario de Madrid“ die Veröffentlichung einer „Sammlung von Drucken launiger Themen“ an. Am 21. Februar, nur wenige Wochen nach dem Erscheinen, nahm er das Album aus dem Handel zurück. In der Zwischenzeit war der Minister Francisco Saavedra gestürzt, der Künstler hatte seinen Protektor verloren. Lediglich 27 Exemplare des Bandes waren verkauft worden. Vier Jahre später schenkte Goya die verbliebenen 240 Exemplare der Erstauflage und die Druckplatten dem König, eine Demutsgeste.
Was die Caprichos zeigten, war tatsächlich brisant: Sie attackierten die moralische Verkommenheit der Spitzen der Gesellschaft, angefangen von den Richtern, die als Raubvögel in Menschengestalt das Volk buchstäblich rupfen, bis hin zu den Mönchen, die Askese gelobt haben, aber hemmungslos saufen und fressen. Um einen Skandal zu verhindern, floh Goya in die Verschlüsselung und verzichtete auf die unmittelbare Identifizierbarkeit seiner Figuren. Trotzdem kursierten bald Listen, auf denen die Abgebildeten mit namentlich bekannten Prostituierten oder sogar der Königin in Zusammenhang gebracht wurden. Noch 1814 offerierte ein englischer Händler ein Exemplar der Caprichos als „moderne Karikaturen, die eine wahre Geschichte des spanischen Hofes unter Karl IV. darstellen“.
Die komplette Folge der Caprichos aus der seltenen Erstauflage ist derzeit in einer Berliner Ausstellung zu sehen, die eine kleine Sensation ist. Denn neben diesen achtzig „launigen Einfällen, leicht hingeworfenen Skizzen“ sind in der ehemaligen Commerzbank-Filiale an der Leipziger Straße auch sämtliche Blätter aller anderen Graphikzyklen Goyas versammelt: die „Disastres de la Guerra“ (1808–14), mit denen er fast reportageartig die Schrecken des Spanischen Befreiungskrieges festhielt, die Stierkampf-Chronik „La Tauromaquia“ (1814–16) und „Los Disparates“ (1816–24), ein geradezu surrealistisch anmutendes Potpourri frei flottierender Phantasien. Die insgesamt 222 Blätter gehören zur Sammlung des Kunsthändlers Richard Mayer, der in Bamberg die Galerie Böttingerhaus betreibt und seine privaten Schätze regelmäßig auf Reisen schickt. Ins Moskauer Stadtmuseum pilgerten im Frühjahr rund 25000 Besucher, um die Goya-Zyklen zu betrachten. Als die nächste Ausstellungsstation St. Petersburg kurzfristig abgesagt wurde, kamen die Radierungen nach Berlin. Hier hängen die Bilder nun in dichter, fast gedrängter Abfolge auf den etwa 400 Quadratmetern zweier leerstehender Geschäfts- und Büroetagen. Einige Blätter sind schlecht ausgeleuchtet, auch die akustische Hintergrundberieselung durch eine von einem russischen Komponisten eigens für die Schau komponierte Musik ist nicht jedermanns Sache. Doch überwältigend ist „Goya – Seelenqualen“ – so der ein wenig zu pathosgeladene Ausstellungstitel – schon allein aufgrund der schieren Überfülle: So viel Kunst von Goya hat man in Berlin seit Jahrzehnten nicht mehr bewundern dürfen.
Der italienische Begriff „Capriccio“ ist ein doppeltes Wortspiel. „Capricciare“ kann für das unbändige Umherspringen einer Ziege („capra“), aber auch für das Haaresträuben eines Wirrkopfes („capo“ = Kopf, „riccio“ = wirr) stehen. Auf seinem berühmten Capricho 43, das als Titelblatt der Folge vorgesehen war, zeigt Goya einen solchen Wirrkopf, aus dessen Schopf die düsteren Gedanken wie Gespenster aufsteigen. Der Mann ist über seinen Notizen eingeschlafen, über seinem müde niedergesunkenen Haupt flattern Eulen und Fledermäuse empor, darunter ist ein Satz eingraviert, der inzwischen als Sinnspruch für die Dialektik der Aufklärung gilt: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“. Ursprünglich hatte Goya den Zyklus „Suenos“ – Träume – nennen wollen, ein albtraumhafter Spuk geistert durch viele Bilder, die mit Hexen, Teufeln und Mischwesen bevölkert sind. Der Sohn eines Vergolders aus Aragon war ein Bewunderer Rousseaus, misstraute aber durchaus dem Fortschritt. So wurzeln seine Caprichos nicht bloß in der radikalen Adels- und Herrschaftskritik der französischen Aufklärung, sondern mindestens ebenso tief in der Gedankenwelt des spanischen Barock, die etwa bei dem Dichter Francisco Gómez de Quevodo y Villegas (1580–1645) von tiefem Pessimismus durchzogen ist: „Man mag die Welt besehen wie man will, sie ist voll Verblendung, Schein und Betrug. Die Heuchelei ist der Quell aller Sünden und alle fließen wieder in sie zurück.“
In den Caprichos – in ihrer abgründigen Mehrdeutigkeit sicherlich sein bedeutendster Radierzyklus – inszeniert Goya ein absurdes Welttheater. Er hält seiner Gegenwart einen Spiegel vor, in dem sie sich nur leicht verzerrt erkennen kann. Der Sünden gibt es viele in dieser Welt, niemand ist ohne Laster. Da gibt es den alten eitlen Minister, der bei der Morgentoilette in einem Buch blättert, das erkennbar nur eine Attrappe ist („Ja, das nennt man lesen“, Capricho 29), einen Arzt, der in Wirklichkeit ein Esel ist und einen Stammbaum zeigt, der auch bloß Esel enthält („An welchem Übel wird er sterben?“, Capricho 40), oder die Adeligen, die als Angehörige einer überflüssigen Kaste wie Geisteskranke in Zwangsjacken eingeschnürt von Bediensteten durchgefüttert werden („Die Chinchillas“, Capricho 50). Virtuos wechselt Goya zwischen den Stilmitteln und Erzählhaltungen. Immer wieder greift er auf Fabeln zurück, etwa, wenn er Junggesellen auf Brautschau als Vögel zeigt, die ein schönes Mädchen umschwirren und anschließend von den Kupplerinnen ausgenommen werden („Alle werden fallen“, Capricho 19). Manchmal skizziert er in wenigen Strichen eine Kurzgeschichte wie von Cechov und lässt ein aufgetakeltes junges Mädchen nicht erkennen, dass die Bettlerin am Straßenrand die eigene Mutter ist („Möge Gott ihr verzeihen“, Capricho 16). Und manches Blatt weist in seinem drastischen Realismus bereits auf die „Desastres“ voraus, zum Beispiel das Bild, bei dem eine von der Inquisition wegen Hexerei zum Tode verurteile Frau mit Schandhut auf einem Esel zum Schafott reitet („Nichts zu machen“, Capricho 24).
„Da der Autor überzeugt ist, dass die Kritik der menschlichen Irrtümer und Laster auch Gegenstand der Malerei sein kann, hat er aus der Vielzahl der Absonderlichkeiten und Torheiten, die in jeder Gesellschaft von Bürgern alltäglich sind, für sein Werk diejenigen ausgewählt, die er für besonders geeignet hielt, ihm Stoff für das Lächerliche zu liefern“, schrieb Goya in seiner Ankündigung der Caprichos. Mit dem Reklametext versuchte der Künstler die Stoßrichtung seiner Herrschaftssatire ins Allgemeinmenschliche abzumildern. Die Angst vor der Inquisition saß ihm ein Leben lang im Nacken. Die Druckplatten seiner „Desastres“ versteckte er, bis zu seinem Tod gab er nur die politisch unbrisanten Stierkampfdarstellungen der „Tauromaquia“ zur Veröffentlichung frei. Berühmte Matadoren sind dort bei ihren Siegen zu sehen, aber die scheinbar harmlosen Bilder hatten einen Hintersinn. Der Umriss Spaniens, heißt es, gleicht einer abgezogenen Kuhhaut. Goya sah im Stier ein Symbol für den spanischen Widerstand gegen die Despotie.
„Goya – Seelenqualen“, ehemalige Commerzbankfiliale, Leipziger Str. 26, bis 28. September, tgl. 11–20, Führungen So 15, Mo 18 Uhr.
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