Erste Premieren nach dem Kultur-Lockdown: Das Radialsystem zeigt eine Berlin-Installation
Eigentum ist Freiheit und Flexibiliät? Eine Installation und Videoperformance spürt der aus dem Ruder laufenden Stadtentwicklung nach.
„Du einkommensstarke Bevölkerungsgruppe! Kauf dir ein schickes Nervenkostüm in Mitte!“ Ein schöner Ratschlag. Er stammt aus dem 20 Jahre alten Stück „Stadt als Beute“ von René Pollesch. Der Titel ist ein geflügeltes Wort geworden. Luxuriöse Angebote für den dicken Geldbeutel und die strapazierte Psyche gibt es längst nicht mehr nur in Mitte.
Während die Politik noch mit Mietendeckel und anderen Verzweiflungsinstrumenten der Londonisierung Berlins gegenzusteuern versucht, sind Betongoldrausch und Ausverkauf längst urbane Realität. Immer mehr Areale erinnern an den Beginn von Rainer Maria Rilkes Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, dieser frühen Schilderung von Großstadterfahrung als Entfremdung: „Also hierher kommen die Leute, um zu leben, und ich würde eher meinen, es stürbe sich hier“.
So lebt es sich als Immobilien-Investor
Man hat sich daran gewöhnt. Sicher, es gibt Mietendemos, manchmal wird erfolgreich ein Google-Campus bekämpft. Aber darüber liegt ein Hauch von Don Quijoterie. So wie es nach über zehn Jahren seltsam ruhig geworden ist um die Initiative „Mediaspree versenken“ - obwohl die Uferflächen ja mehr als alle anderen Berliner Baugründe für eine gnadenlose Kommerzialisierung unter dem erprobten Motto „Shoppen statt leben“ stehen.
Im zweiten Stock des Radialsystems, das ja ebenfalls an der Spree gelegen ist, gibt es jetzt ein Showroom mit Videoscreen und Hochhaus-Deko einen Geschmack vom süßen Immobilien-Investoren-Dasein. „Eigentum ist Flexibilität“, säuselt es hier, „Eigentum ist Freiheit“.
Errichtet haben dieses aseptische Setting das Kollektiv Guerilla Architects, das 2012 in London im Rahmen einer Hausbesetzung gegründet wurde, sowie Alicia Agustín, die als Performerin und Regisseurin auch Teil der Gruppe Talking Straight ist. „1 km² Berlin - Akt I: We are sorry!“ heißen Rauminstallation und Videoperformance, es ist der Auftakt einer Trilogie, die der „Tragödie der offenen Stadt“ nachspüren wird, mithin: einer aus dem Ruder gelaufenen Entwicklungspolitik.
[Mehr aus der Hauptstadt. Mehr aus der Region. Mehr zu Politik und Gesellschaft. Und mehr Nützliches für Sie. Das gibt's jetzt mit Tagesspiegel Plus. Jetzt 30 Tage kostenlos testen]
Im Zentrum steht im ersten Akt das sogenannte Anschutz-Areal rund um die Mercedes-Benz-Arena, benannt nach jenem US-Investor, der, „seit Jahrzehnten schweigend, vor Milliardenverlusten keine Angst“ kennt, wie's im Video heißt. Die Performer Alicia Agustín, Lara-Sophie Milagro und Laurean Wagner streifen in diesem 30-minütigen filmischen Essay durch eine entseelte Welt der Edelfassaden, während aus dem Off die wahre und entsprechend unübersichtliche Geschichte des Verkaufs und Weiterverkaufs dieses Fleckchens Stadt erzählt wird. Von der Treuhand zur nächsten Holding zur wieder nächsten Irgendwas-Estate-GmbH. Auch der Berliner Bankenskandal ist Teil dieser Historie.
Ändert die Pandemie das Gesicht der Städte?
„1 km² Berlin - Akt I: We are sorry!“ (nächste Vorstellung So, 16. 8., 14 bis 19 Uhr) ist nicht nur als konkretes urbanes Lehrstück interessant, sondern vor allem als Frage an die Zukunft. Schließlich leben wir inmitten einer Pandemie, die das Gesicht vieler Städte weltweit radikal verändern könnte. Welche kleinen Geschäfte überleben, welche Ketten übernehmen?
Daran schließt sich im Radialsystem die Reihe „Dialoge 2020 - Relevante Systeme“ von Sasha Waltz & Guests an (ab 20.8.), in der die gegenwärtigen Umbrüche ebenfalls aus verschiedenen künstlerischen Perspektiven beleuchtet werden.
Guerilla Architects und Agustín geht es in ihrer Arbeit nicht darum, nur mit dem antikapitalistischen Drohfinger Richtung Politik und Investoren zu winken. Vielmehr wird auch die Frage nach der Verantwortung der Architekten gestellt, die diese Einkaufs- und Eventstädte entwerfen. Eine anonyme Stimme sagt dazu im Video: „Man hätte viel früher dem Ganzen Grenzen setzen müssen“. Patrick Wildermann