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Landpartie. Rainer Maria Rilke (links), Lou Andreas-Salomé (rechts) und der russische Bauerndichter Spiridon Droschin (Mitte) auf dem Gut des Schriftstellers Nikolai Tolstoi (1900).
© Droschin Museum, Sawidowo /dla

Rilke-Ausstellung in Marbach: Mir zittern die Sinne

Zwischen sexuellen Erweckungserlebnissen und der Suche nach Gott: Das Marbacher Literaturmuseum widmet sich Rainer Maria Rilkes Passion für Russland.

Die Ausstellung über Anton Tschechows Reise auf die Gefängnisinsel Sachalin im Jahr 1890 war im Herbst 2014 das erste gemeinsame Projekt zwischen dem Marbacher Literaturmuseum der Moderne und dem Staatlichen Literaturmuseum der Russischen Föderation in Moskau. Schon nach dieser Premiere hatte dessen Leiter Dmitri Bak einen ehrgeizigen Plan ins Auge gefasst: eine Schau über Rainer Maria Rilkes beide Reisen nach Russland in den Jahren 1899 und 1900.

Als trinationales Unternehmen zwischen Marbach, Moskau und zwei Schweizer Literaturmuseen in Bern und Zürich kann das Ergebnis jetzt zunächst in Marbach, im Herbst dann in der Schweiz und im kommenden Jahr in Moskau besichtigt werden. Die von Thomas Schmidt kuratierte Schau versammelt rund 280 Zeugnisse aus über 20 deutschen, schweizerischen und russischen öffentlichen und privaten Archiven.

Das Motto fasst ein Rilke-Zitat zusammen, das in Goldlettern auch den Katalog zur Schau einleitet: „Dass Russland meine Heimat ist, gehört zu jenen großen und geheimnisvollen Sicherheiten, aus denen ich lebe.“ Wie kommt der 1875 in Prag geborene und 1926 in der Schweiz gestorbene Dichter zu dieser Behauptung? Als Rilke im April 1899 zusammen mit Lou Andreas-Salomé und deren Mann Friedrich Carl Andreas zu seinem ersten Besuch in Moskau eintraf, war er noch ein unbekannter Schriftsteller und privat wie beruflich auf der Suche nach Orientierung.

Kann man Rilkes Projektionen in einer Ausstellung zeigen?

Immerhin: Ein sexuelles Erweckungserlebnis war dieser ersten Russland-Reise vorausgegangen, denn seit 1897 waren Rilke und die 14 Jahre ältere Lou Salomé ein Paar. Das spirituelle Erweckungserlebnis erfolgte nach der Ankunft in Moskau, als man gemeinsam den Osternachtsgottesdienst im Kreml besuchte. „Da neigt sich die Stunde und rührt mich an / mit klarem, metallenem Schlag: / mir zittern die Sinne. Ich fühle: ich kann – / und ich fasse den plastischen Tag“ – mit diesen im Herbst 1899 entstandenen Versen, in denen die Kreml-Glocken nachhallen, wird Rilke seinen 1905 veröffentlichten Gedichtband „Das Stunden-Buch“ einläuten. Die Geburt des Dichters aus dem Geist der religiösen Ergriffenheit.

Damit sind Glanz wie Problematik dieser Pilgerfahrt Rilkes nach Russland angesprochen. Was der werdende Dichter da im Osten sucht, ist jener Gott, dessen Tod Nietzsche für den Westen Europas ausgerufen hatte. Russland mit den Ikonen seiner Kirchen und Klöster und der Volksfrömmigkeit seiner einfachen Bauern, so glaubt Rilke, sei „die letzte, heimlichste Stube im Herzen Gottes“. Und die russische Landschaft, die ihn auf seiner zweiten Reise ins Zarenreich von Mai bis August 1900 während einer Fahrt mit dem Dampfschiff auf der Wolga überwältigt, gibt ihm das Gefühl, er habe Gott bei „der Schöpfung zugesehen“. Kann man solche Projektionen in einer Ausstellung zeigen?

Man sieht, was Rilke nicht zur Kenntnis nehmen wollte

Der Rundgang beginnt mit einem goldgerahmten Ölgemälde des Malers Leonid Pasternak, dem Vater des Schriftstellers Boris Pasternak, das einen sinnenden Rilke vor dem Hintergrund russischer Kirchen zeigt, während man aus Lautsprechern von fern die Kreml-Glocken schlagen hört. Im weiteren Verlauf wird deutlich, dass sich Rilke tatsächlich intensiv mit dem Land beschäftigt hat. Man sieht russische Wörter- und Sprachlehrbücher aus seinem Besitz, einen Baedeker mit Unterstreichungen, eine Karte mit Eisenbahnlinien, eine von Rilke angefertigte Genealogie der russischen Herrschergeschlechter oder Bücher zur russischen Literatur- und Kunstgeschichte, die sich der Tourist besorgt hat. Und einige Ikonen, die er erworben hat.

Treuer Leser. Boris Pasternak mit Rilkes „Neuen Gedichten“ (1933)
Treuer Leser. Boris Pasternak mit Rilkes „Neuen Gedichten“ (1933)
© Staatliches Literaturmuseum, Moskau/dla

Aber sieht man auch, was Rilke nicht nicht zur Kenntnis nehmen wollte: ein Russland, das sich bereits mitten im Prozess der Industrialisierung befand, mit all den Glanz- und Schattenseiten, den dieser Prozess mit sich brachte? In Sankt Petersburg, der zweiten Station nach dem Moskauer Aufenthalt im Jahr 1899, fühlte sich Rilke unbehaglich, fand „alles viel internationaler und unrussischer“. Das war nicht das vorindustrielle, archaische, von der westlichen Zivilisation und Dekadenz noch nicht berührte heilige Russland, das der Dichter suchte.

Die Ausstellung verschweigt diese selektive Wahrnehmung nicht. Als ihn russische Freunde auf die Schattenseiten des russischen Landlebens hinwiesen, wo die Bauern in Armut und Unwissenheit dahinvegetierten, ließ sich Rilke durch solche Einwände nicht irritieren: „Ich fürchte nicht, dass das russische Volk an Hunger sterben könnte, denn Gott selbst ernährt es mit seiner ewigen Liebe.“

Ein Land im Umbruch

Während der Dichter nach einem dreitägigen Aufenthalt in einer Bauernhütte auf dem Land in einem Brief an seine Mutter von der Schönheit der primitiven Wohnung schwärmt, erinnert sich Lou Salomé später nüchtern an „Splitter im Fingernagel und in den Nerven“. Durs Grünbein hat denn auch in seiner Rede zur Ausstellungseröffnung von Rilkes „Märchenrussland“ gesprochen, das der Reisende als „Bastion gegen die Verwestlichung“ wahrgenommen habe.

Als Kontrapunkt zeigt man in Marbach Schwarz-Weiß-Fotografien, die von der FAZ-Fotografin Barbara Klemm in den Jahren zwischen 1970 und 2012 in Russland und der Ukraine aufgenommen wurden, und eine ebenfalls schwarz-weiß gehaltene Serie von Aufnahmen, die Mirko Krizanovic 2015 angefertigt hat. Er wurde von den Ausstellungsmachern gebeten, Rilkes Reiseroute zu wiederholen und dabei seine Eindrücke festzuhalten. Was man da sieht, ist ein Land im Umbruch: Passagiere in der Moskauer Metro, die auf ihre Smartphones starren, Obdachlose in der Touristenmeile von Kasan, Landarbeiter auf dem Feld oder ein sich küssendes Liebespaar vor einem Schlachtendenkmal.

Literaturmuseum Marbach, bis 6. August. Der prächtige Katalog umfasst 296 Seiten und kostet 30 Euro.

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