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Peter Rene Lüdicke in Sebastian Hartmanns Inszenierung "Hunger. Peer Gynt" im Deutschen Theater Berlin.
© imago/Martin Müller

"Hunger.Peer Gynt" am DT: Das Ich aus der Zwiebel

Wer wagt und Hamsun mit Ibsen kreuzt, gewinnt: Sebastian Hartmanns großartige Inszenierung „Hunger. Peer Gynt" im Deutschen Theater Berlin.

Dem Protagonisten aus Knut Hamsuns Roman „Hunger“ mangelt es nicht an der Fähigkeit zur Selbstdiagnose. „Wie war es mit mir die ganze Zeit beständig bergab gegangen!“, bringt er seine Situation messerscharf auf den Punkt. Eingedenk der Tatsache, dass er nichts zu essen und keine Öre in der Hosentasche hat, ist diese Einsicht nicht von der Hand zu weisen. Man kann sich gut vorstellen, wie viele Regisseure diesen Stoff auf der Bühne sozialrealistisch ausbeuten würden. Auch, wenn er sich dafür wirklich nur sehr bedingt eignet. Zwar folgt man als Leserin diesem jungen Intellektuellen, der sich erfolglos als Zeitungsschreiber durchs Kristiania des vorletzten Jahrhunderts schlägt, ständig zu Pfandleihen und in psychosomatisch folgenreiche Hunger-Zustände.

Aber die soziale Ursache dafür bleibt hintergründig in Hamsuns Roman. Entscheidend sind die inneren Monologe und Bewusstseinszustände, ist die durch den Hunger gesteigerte Wahrnehmungs- und Assoziationsschärfung. Der Text gilt ja nicht umsonst als Vorläufer Marcel Prousts oder James Joyces. Und genau hier knüpft der Regisseur Sebastian Hartmann an bei seiner Inszenierung im Berliner Deutschen Theater. Buchstäblich. Denn Joyces „Ulysses“ hatte er Anfang des Jahres bereits auf die DT-Bühne gebracht. Wie dort sitzt er die Erzähltechnik der Vorlage insofern sinnträchtig zu, als er auf äußere Handlungsverläufe komplett verzichtet. Er interessiert sich für Motive und innere Prozesse; für Verdichtungen, Gedankenfetzen und Bewusstseinsströme.

Hartmanns Theater ist Bildertheater:

Die zehn Schauspieler/innen stehen – allesamt in persönlicher Bestform – auf der lichttechnisch heruntergedimmten Bühne tatsächlich wie in einem Bewusstseinszustand. Oder in einem bewegten Schwarzweiß-Bild, gekleidet in maximal (sozial-)realismusferne schwarze Kleider, Hüte und Anzüge der Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki. Sie malen abendfüllend an einem riesigen, von Tilo Baumgärtel vorgezeichneten Schwarzweiß-Bild und wirken dabei selbst fast skulptural. Hartmanns Theater ist Bildertheater: Das Werk wird permanent korrigiert, übermalt, wieder ausgelöscht, neu überschrieben. Ein Motiv, das der Regisseur bereits im März in seiner ebenfalls sehr gelungenen Dostojewski-Inszenierung „Erniedrigte und Beleidigte“ am Staatsschauspiel Dresden entwickelt hat und hier quasi perfektioniert; wie seine Methode insgesamt.

Denn hinzu kommt dieses Mal, am DT, der Versuch, eine Art produktiven Text-Crash herbeizuführen. „Hunger. Peer Gynt“ heißt Hartmanns Abend, der Knut Hamsun mit Henrik Ibsen und den Bewusstseins- mit dem Welten-Durchquerer konfrontiert. „Uns geht es nicht darum, beide Texte miteinander zu verflechten“, erklärt der Regisseur im Programmheft. „Ich möchte ... versuchen, ihre ungewöhnlichen und unterschiedlichen Energien ... aufeinanderprallen zu lassen, in der Hoffnung, dass daraus etwas ganz anderes entsteht.“

Mal abgesehen davon, dass der Abend sich dramaturgisch trotzdem als äußerst klug gebaut erweist: Wie wohltuend schon die Tatsache, dass mal wieder jemand etwas wagt im Theater! Dass jemand eine andere (begründete) Idee hat als die Handlungslinien abklappernde Textbebilderung. Oder die zwar häufig wirksame, am besten aber immer noch bei ihm selbst funktionierende Intellectual-Methode der (Fremd-)Textwucherung à la Frank Castorf.

Die Schauspieler und Schauspielerinnen konnten frei mit den Texten von Hamsun und Ibsen umgehen

Und umso erfreulicher, dass Hartmanns Zusammenprall tatsächlich außergewöhnliche Funken schlägt. Beide Protagonisten – Hamsuns Ich-Erzähler wie Ibsens Peer Gynt – sind ja auf je eigene Art fabulierende, geradezu existenziell Geschichten erfindende Welten-Entwerfer. Da ist man entsprechend schnell bei den existenziellen Dingen: dem Ich als solchem, das Peer Gynt bei Ibsen aus der berühmten Zwiebel herauszuschälen versucht. Bei Anfang und Ende, bei den ersten und den letzten Dingen, bei Wahnsinn (und möglicherweise auch Genie) und also, kurzum: bei allem.

Mithin übermalen die Schauspieler und Schauspielerinnen nicht nur das Baumgärtel-Bild, das sie, wie einmal Peter René Lüdicke in einer symbolträchtigen Szene, zu diesem Zweck am besten per Leiter erklettern. Sondern sie treten selbst als Figurenskizzen auf; als wiederkehrende Motive oder besser Motiv-Entwürfe, die einander versuchsweise doppeln, sich wieder verwerfen und neu überschreiben. Er habe die Schauspieler und Schauspielerinnen gebeten, erzählt Hartmann im Programmheft, sich selbst Passagen aus den Texten herauszusuchen, „in denen sie einen intellektuellen oder emotionalen Reiz entdecken, um dann möglichst frei mit dem Text umgehen zu können“. Almut Zilcher hadert zum Beispiel expressiv-passioniert mit Gott und Linn Reusse wunderbar energisch mit der Liebe, dem Sinn und „zurückhaltenden Menschen“. Cordelia Wege pumpt sich formvollendet mit den Omnipotenzfantasie-Versuchen des Hamsunschen Zeitungsschreibers auf: „Dann zerpflücke ich Ihnen den ganzen Kant!“ Linda Pöppel denkt mit furioser Verve über Jagdreportagen nach und Elias Arens über den Wahnsinn.

Wer die Texte kennt, wird lauter feine Verweise zwischen ihnen finden: Der Liebesgeschichtenversuch des Hamsun-Protagonisten etwa überlagert sich mit Peer Gynts (ungelebter) Beziehungsgeschichte, die aus der Bindung zu dessen Mutter Aase entwickelt wird. Großartig, wie Almut Zilcher, an der Rampe liegend, Aases Sterbeszene spielt und der grandiose Manuel Harder als Gynt sich dabei an ihrem Kopf zusammenkauert. Das sind Bilder einfach auch ganz elementar wirken; ohne Textkenntnis.

Die Schauspieler schöpfen übrigens aus einem Textreservoir, das deutlich über die Aufführung hinausgeht und, jeden Abend neu, buchstäblich zusammengespielt wird. Nur Anfang und Ende stehen fest. Der Rest ist Augenblick.

Nächste Vorstellungen am 23. u. 26.10

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