"Ulysses" am Deutschen Theater: Wenn sich die Räume biegen
Bewusstseinsströme: Sebastian Hartmann inszeniert James Joyce’ Roman „Ulysses“ am Deutschen Theater.
Unter den Romanen, die ausdrücklich nicht nach einer Bühnenbearbeitung schreien, gehört „Ulysses“ zu den Top Ten. Es ist nicht übertrieben, den Tausendseiter, mit dem James Joyce vor rund hundert Jahren die Literatur revolutionierte, als unaufführbar zu bezeichnen. Die aktionsarme Handlung nachzuinszenieren, wäre ein banalitätsverdächtiges No-Go. Vordergründig folgt „Ulysses“ einigen Dublinern – dem Anzeigenagenten Leopold Bloom, seiner Frau „Molly“ oder dem Schriftsteller und Pädagogen Stephen Dedalus – einen kompletten Tag im Jahr 1904 bei ihren Alltagsverrichtungen: vom Frühstück über das Nierchenbraten und den Toilettengang bis hin zu Krankenhausbesuchen.
In den Tiefenstrukturen wird es bekanntermaßen noch schwieriger: Wie will man dieser verweisungsreichen Odyssee durch Symbole, Motivgeschichten, Erzähltechniken, Metaebenen und Bewusstseinsströme, die Joyce hier auf der Folie von Homers antikem Epos entfaltet, an einem Theaterabend gerecht werden? Regisseur Sebastian Hartmann ist das Wagnis eingegangen, hat „Ulysses“ im Deutschen Theater als (gemessen am Textvolumen nachgerade schlanken) Vierstünder auf die Bühne gebracht – und erst einmal gewonnen. Indem er den Roman im engeren, mithin bebildernden Sinne gerade nicht inszeniert.
Jedwede Konkretion – Handlungsorte, Figuren, kurzum: alles Realistische und Illustrative – ist in dieser Spielfassung konsequent eliminiert beziehungsweise entgrenzt. Stattdessen dominieren existenzielle Zustandsverdichtungen, Gedanken- und Bewusstseinsströme. Sie sind ästhetisch aufgelöst in eine Struktur, die zunächst an eine Nummernrevue erinnert und als solche zumindest vor der Pause ins Aphoristische abzudriften droht. Allerdings mit Schauspielern, die durchgängig auf Höchstniveau agieren.
Schwarze Riesenbälle, bedeutungsschwanger
Auf der abstrakt leeren, vom Regisseur selbst entworfenen Bühne, über der sich gelegentlich zwei symbolschwere und doch deutungsoffene schwarze Riesenbälle herabsenken, präsentieren Bernd Moss, Cordelia Wege, Linda Pöppel, Birgit Unterweger und Judith Hofmann zum Beispiel den Shakespeare-Diskurs aus dem Kapitel in der Nationalbibliothek als zwanglose Partyplauderei in entsprechender Abendgarderobe (Kostüme: Adriana Braga Peretzki).
Was mit solidem Ödipal-Smalltalk über den Dänenprinzen Hamlet und seinen Vater beginnt, lässt Hofmann in einem obsessiven Abgesang auf den Typus „kleiner dummbratziger Männer“ kulminieren, finale pantomimische Zertretungsorgie inklusive.
Blooms Onanie-Szene bringen Birgit Unterweger und Benjamin Lillie in einer parodistischen Verklemmungschoreografie über die Rampe. Cordelia Wege lässt beim (irischen) Nationalisten und Antisemiten, mit dem Bloom nachmittags im Pub aneinandergerät, den tagesaktuellen Pegidisten durchscheinen, indem sie ihren am Boden liegenden Kollegen Edgar Eckert immer wieder am Schlafittchen packt und ihm mit infantilem Eifer Definitionen zu „Europa“, „Nation“ oder „Rasse“ abpresst.
Schon in früheren Arbeiten wie Tolstois „Krieg und Frieden“ (während seiner Intendanz am Leipziger Centraltheater) oder Döblins „Berlin Alexanderplatz“ am DT hat Sebastian Hartmann eine sehr eigene Form der Prosa-Adaption entwickelt, die den jeweiligen Roman motivweise verdichtet. Konkrete Figurenidentitäten werden aufgelöst und – nach den anfänglichen Nummernrevue-Anwehungen – auch hier zu Botschaftern der letzten Dinge abstrahiert: Geburt und Tod sowie Liebe, Begehren, Bewusstsein. Und, im konkreten Fall: Quantenphysik.
Die Kausalität hat sich erledigt
Mit dieser Disziplin habe sich das Ensemble, das die Spielfassung gemeinsam mit dem Regisseur entwickelte, während der Proben ausgiebig beschäftigt, erfährt man aus dem Programmheft. „Hinter oder neben oder in der Welt, wie wir sie definieren“, sagt Hartmann darin im Gespräch mit dem Dramaturgen Claus Caesar, „eröffnet die Quantenphysik eine Welt, die sich mit unseren Begriffen nicht fassen lässt: Die Zeit gehorcht anderen Gesetzen, Dimensionen werden vielgestaltig, Räume können gebogen sein, das Kausalitätsprinzip funktioniert nicht mehr."
Wie sich das genau verhält und in welcher Weise uns unser gutes altes Bewusstsein an diesem quantenmechanischen Weitblick hindert, referiert Bernd Moss zu vorgerückter Stunde in einer Art Schlüssel-Improvisationsnummer, der nicht nur das Publikum, sondern auch das restliche Ensemble in einer angemessenen Mischung aus Irritation, Amüsement und tieferem Erleuchtungswillen lauscht. Die Quintessenz: „Macht es wie die Elektronen, die sich nicht auf ein Hier und Jetzt beschränken, sondern von ihrem Grundzustand schon mal mehr als eine Möglichkeit sind!“
Darauf will der Regisseur Sebastian Hartmann, soll der ganze Abend, hinaus. In diesem Sinne gibt es durchaus bewusstseinserweiternde (Theater-)Momente. Etwa in Manuel Harders Interpretation der berühmten Geburtsszene, in der Joyce die Embryonalstadien mit der Sprachgeschichte zusammenführt. Oder bei den komplexen Gedanken über den Tod, an deren Verfertigung Ulrich Matthes in schwarz-rot glitzerndem Anzug und Bestform das Publikum live teilhaben lässt.
Unterm Strich bleibt so ein interessanter Abend am Deutschen Theater, wenn auch mit gewissen Startschwierigkeiten, der mindestens einen häufig unerfüllt bleibenden Wunsch an dramatische Roman-Adaptionen einlöst: Er liefert eine eigene, theatrale Sicht auf die Vorlage und hat schon insofern Seltenheitswert.
Nächste Vorstellungen am 28. Januar sowie am 18. und 25. Februar
Christine Wahl
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