Premieren am Deutschen Theater: Schuld plus Verdrängung gleich Leben
Deutsches Theater: Sebastian Hartmann spannt in seiner Inszenierung von „Gespenster“ Ibsen und Strindberg zusammen. Martin Laberenz versucht sich am Elfriede-Jelinek-Text „Wut“.
Der Rittmeister, ein mit stabiler Hybris gesegneter Patriarch, wird massiv aus der Bahn geworfen in August Strindbergs Drama „Der Vater“. Plant er im ersten Akt noch selbstbewusst die Berufslaufbahn seiner Tochter Bertha – freilich ohne seiner Frau Laura oder gar der Betroffenen selbst Mitspracherechte einzuräumen –, steckt er im letzten Akt ob bedenklicher Gemütsverfassung in einer Zwangsjacke. Der Grund des Niedergangs: Aus Rache für den männlichen Alleingang hatte Laura bei ihrem Gatten Zweifel gesät, dass Bertha tatsächlich seine leibliche Tochter ist.
Szenenwechsel. Auch mit Osvald, dem heimgekehrten Sohn aus Henrik Ibsens Dreiakter „Gespenster“, steht es mental nicht zum Besten. Die Mutter muss in der Krankheit ihres unschuldigen Sohnes das (syphilitische) Erbe der peinlichst verschwiegenen „Ausschweifungen“ erkennen, die sich ihr mittlerweile verstorbener Gatte geleistet hatte. Merke also: Realitätsverdrängung nützt gar nichts. Je unaufgearbeiteter, desto unverwüstlicher leben die elterlichen Verfehlungen, die „Gespenster“ der Vergangenheit, in den Kindern und Kindeskindern fort.
Eher sozialhistorische als familiäre Gespenster
Im Deutschen Theater Berlin spannt der Regisseur Sebastian Hartmann unter dem Motto „Gespenster“ Strindbergs und Ibsens Familiendramen zusammen und ergänzt sie um Bruchstücke aus Heines Versepos „Deutschland. Ein Wintermärchen“, in dem es in gewisser Weise auch um Gespenster geht. Allerdings eher um (sozial-)historische als um kernfamiliäre. Weshalb immer, wenn Linda Pöppel zur Live-Musik von Ben Hartmann und Philipp Thimm Heine intoniert, ein deutliches Fremdkörpergefühl entsteht. (Was nicht heißt, dass man ihr nicht trotzdem gern zuhört.)
Hartmann interessiert sich ausdrücklich nicht für Tathergang und Chronologie, sondern arbeitet Kernszenen heraus, die er quasi zu Urszenen macht, indem er sie in verschiedenen Konstellationen immer wieder durchspielen lässt: der zwischengeschlechtliche Machtkampf, die Mutter-Kind-Beziehung, die Schuld. Strukturell immer gleich, en détail immer anders. In dieser Lesart mutieren die Ehekrieger, Krankheitsvererber und Wahrheitsverdrängerinnen also gleichsam zu sozialkontextfreien letzten Instanzen: eine These, über die sich streiten lässt.
Katrin Wichmann und Felix Goeser spielen ein großartiges Ehekriegspaar
Unstrittig hingegen ist, dass Katrin Wichmann und Felix Goeser ein großartiges Ehekriegspaar spielen. Goeser verleiht dem omnipotenzfantasiebegabten Rittmeister aus dem „Vater“ genau die nötige Heutigkeitsbrüchigkeit. Und Wichmanns Laura bietet die Strindberg’sche Frauenfeindlichkeit mit einer Mischung aus Pragmatismus, Witz, Ironie und tieferer Bedeutung in einer Lässigkeit dar, die Seltenheitswert besitzt im Theater – und in keiner Sekunde Gefahr läuft, platterdings den Text zu demontieren.
Dagegen fallen die Ibsen-Szenen zwischen Mutter und Sohn, die Hartmann in Doppelkonstellation von Schauspielerpaaren verschiedenen Alters spielen lässt, eher in den archaischen Tragödienzuständigkeitsbereich. Gabriele Heinz und Markwart Müller-Elmau würden locker als Ehepaar mit Kurs auf die Goldhochzeit durchgehen und spielen die Ibsen’schen Mutter-Sohn-Szenen auch so; inzestuöse Verstrickungen inklusive.
Bei Almut Zilcher und Edgar Eckert hingegen trifft eine Mutter, die die Verdrängung fast bis zur Demenz internalisiert hat, auf einen ebenso altersgerechten wie leidenschaftlich verzweifelten Sohn. Neben tollen Schauspielerleistungen gelingen Hartmann spektakuläre Bilder. Die Düsternis der von ihm selbst entworfenen Bühne mit wuchtiger Rampe und weitem Raum für Tilo Baumgärtels zeiten- und genreübergreifende Videoprojektionen wiederholt sich in Adriana Braga Peretzkis Kostümen: Die Strindberg- und Ibsen-Zombies tragen standesgemäß Schwarz und wirken wie Wiedergänger eines wuchtigen Genregemäldes.
Beisammen - und ohne Lust auf Auseinandersetzung
Von Wiedergängern wimmelt es auch in Elfriede Jelineks Text „Wut“, der in Nicolas Stemanns Urinszenierung an den Münchner Kammerspielen gerade zu den „Mülheimer Theatertagen“ eingeladen wurde und landauf, landab nachinszeniert wird – jetzt auch von Martin Laberenz an den DT-Kammerspielen. „Wut“ entstand zwar in Reaktion auf die Terroranschläge auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt in Paris, diagnostiziert das titelgebende Gefühl aber beim antiken Griechen-Heroen Herakles ebenso wie bei IS-Terroristen und Pegidisten, bei Religionsverfechtern wie -verächtern.
Wobei Jelinek die jeweiligen Wut-Rhetoriken bewusst ineinanderlappen lässt und so eine Textfläche sampelt, in der sich das Grundrauschen unserer Zeit verdichtet. Man kann hier als Regisseur entweder zu differenzieren versuchen oder die Unschärfen betonen. Laberenz entscheidet sich für Letzteres, was zur zeitdiagnostischen Erhellung leider nur wenig beiträgt.
Dafür ist ihm, immerhin, schauspielerisch ein hochklassiger Abend gelungen, in dem sich die Akteure aus ihrer anfänglich gediegenen Cocktail-Wut-Gesellschaft heraus immer tiefer in religiöse Bilder und Bildverbote, in Zornassoziationen oder falsch verstandenes Mutbürgertum hineinsteigern und nebenbei als unterschwellig aggressionsgefährdetes Schauspielensemble selbst mitreflektieren. Anja Schneider gibt die halbherzig Harmoniebestrebte, die abendfüllende Latenzwut des grandiosen Andreas Döhler entlädt sich wechselweise in Kollegenbeschimpfungen oder punktgenau beobachteten Pegida-Ausbrüchen, oder Sabine Waibel brüllt mit Jelinek-Frisur die Wut einer verlassenen Frau über die Rampe. Frei nach dem Motto: „Wir setzen uns mit nichts mehr auseinander, wenn wir einmal beisammen sind.“
„Gespenster“, wieder am 28.2. sowie am 5. und 12. März. „Wut“: 4. und 8. März.