Filmfestival im tschechischen Karlsbad: Das Herz von Europa
Prächtige Gründerzeitkulissen und ein Bäderstädtchen voll junger Leute - im tschechischen Karlsbad steigt alljährlich das "Mezinarodni Festival Filmovy Karlovy Vary". Film und Wirklichkeit, europäische Geschichte und Gegenwart: Für eine Woche findet hier alles zusammen.
Die Reise in jene andere Welt, die zugleich eine zutiefst unfremde ist, beginnt auf dem Berliner Bahnhof Südkreuz. Aus dem stahlgläsern eingefassten Waschbeton-Quader wechselt der Reisende in ein Wohnzimmer mit Fauteuils in warmen Gemüsepfannenfarben unter beigefarbenen Vorhängen im Ziehharmonika-Design: Willkommen im charmant durchgesessenen ungarischen Großraumabteil des Eurocity 175. Auf der langen Tagesfahrt von Hamburg nach Budapest passiert der Zug 28 Bahnhöfe, und gemächlich zieht es ihn nun vom Brandenburgischen ins Sächsische hinüber. Dresden, Elbsandsteinfelsen, linkerhand der Fluss mit den am Ufer allüberall aufgehübschten Häuschen, die auf einmal ärmlicher wirken, blasser, im Dahingleiten lässt sich sowas leicht übersehen. Der Zug hat eine unsichtbare Grenze passiert, von Neudeutschland nach Altböhmen (zischender ausgesprochen: Tschechien), unterwegs in der tiefen Mitte Europas, in einem irgendwie vereinten Kontinent.
Es geht zum „Mezinarodni Filmovy Festival Karlovy Vary“, das sich weltläufig KVIFF kürzelt: „Karlovy Vary International Film Festival“. Karlovy Vary ist ein derart fester Begriff im Cineasten-Kalender, dass der alte Stadtname Karlsbad zunächst merkwürdig tönt - zudem restverdächtig revanchistisch angesichts der deutsch-tschechischen Geschichte. Andererseits: Sagt nicht jeder deutsche Europabewohner längst wieder so unbefangen Breslau, Posen und Stettin, wie er seit jeher Venedig, Rom oder Moskau sagt? Im Weltbad Karlsbad also, in dem einst die Belegschaft ganzer alteuropäischer Dichter- und Komponistenquartette abstieg, versteht sich ein höchst vitales Filmfestival ähnlich, wie sich zu Eisernen-Vorhang-Zeiten die Berlinale begriff: als zeitgemäßer Mittler zwischen Ost und West. Folglich guckt das Ostpublikum die neuesten Filme aus aller Westwelt, und die Westfilmleute gucken, was der Osten an Tollem herausbringt und was sie selber meist ignorant ignorieren. Aber gibt es den Osten noch so und so den Westen? Sofern man genauer hinschaut: schon.
Rossmann, DM - und dann der Heimwehtourismus
Die Umsteigezeit vom Eurocity in den tschechischen Regionalzug, knapp 40 Minuten in Usti nad Labem (oder auch: Aussig an der Elbe) - ob sie so großzügig vor allem für Berliner Kulturjournalisten bemessen ist, die beim Packen in letzter Minute ihren Kulturbeutel vergessen? Also fahren sie mit der Rolltreppe in die schmuck modernisierte Bahnhofshalle und gehen durch das schmuck modernisierte Städtchen zu Rossmann. Oder auch zu DM. Und zahlen, weil immerhin diese allerletzte euroländische Grenze noch nicht gefallen ist, in tschechischen Kronen. Im Anschlusszug dann die Fenster runter, die Faltenrockvorhänge flattern im Wind, und die Ohre (oder: Eger), an der es nun entlanggeht, leuchtet an dem heißen Sommertag wie Brechts Lech. Das Heu trocknet auf den Wiesen, Schlüsselblumen funkeln am Bahndamm, dahinter Häuser mit restgelber Farbe, richtig, alles Heimwehtouristen-Impressionen. Seltsam schönes Heimweh, zumal wenn man die Strecke von Berlin nach Karlsbad, sechs Stunden für gut 300 Kilometer Luftlinie, noch nie gefahren ist.
Irgendwo zwischen Most und Kadan dann, zwischen bunt übermalten Plattenbauten und fetten Kraftwerksrohren, eine Art Ende der Welt. Auch die Filme später erzählen davon. In einem serbischen Dorf haben sie das Russendenkmal abmontiert und zwecks Ankurbelung des Fremdenverkehrs ein lustige Ersatz-Idee (rustikal: „Monument to Michael Jackson“ von Darko Lungulov). In der ungarischen Puszta erscheint einem schüchternen jungen Mann dauernd der Poltergeist des frisch verstorbenen Vaters („Afterlife“, das sensible Debüt der 29-jährigen Virág Zomborácz). Und im öden albanischen Marschland, tief im Süden des kontinentalen Vertikalgürtels, betreibt ein Taugenichts mit seiner tüchtigen Kusine ziemlich prekär eine Bar auf Holzpfählen (wuchtig und zart: „Bota“ von Iris Elezi und Thomas Logoreci). Die Bar heißt Bota, und Bota heißt Welt. Und die Welt besteht aus vier vierstöckigen Graubauten nebenan, wohin frühere Regimes ihre Dissidenten verschleppten.
Überhaupt: Vergangenheit. Wenn die familienweise versammelten Kanu-Konvois auf der Eger immer weiter flussabwärts fahren würden, kämen sie durch Terezin, auch als Theresienstadt bekannt, und gleich dahinter, bei Litomerice, mündet die Eger in die Elbe. Die Insassen des KZ-Außenlagers bei Leitmeritz mussten in einem alten Kalksteinbergwerk Kriegsgerät für die Deutschen zusammenbauen; heute dienen die Stollen als nukleares Endlager. Theresienstadt kommt in Zdenek Jiraskys Essayfilm „In Silence“ vor, der das Leben jüdischer Musiker von glücklicher Vorkriegszeit bis zur anonymisierten Deportation nachinszeniert. Im Abspann unter vielen Namen eine Art Trost: „Edith Kraus, Pianistin, überlebte als einzige ihrer Familie in Theresienstadt. 1949 emigrierte sie von Prag nach Israel und wurde 100 Jahre alt.“
10000 Studenten rocken die Stadt
Wie passt das nahe Karlsbad zu all dem, dieses prächtig restaurierte Museum der Gründerzeit? Überhaupt nicht, mit seinen Badehäusern, Theaterchen, in warmen Farben prunkenden Fassaden, die vom Reichtum ihrer neuen oft russischen Besitzer künden. Alteingesessene finden: Die Russen sind 1968 einmarschiert, jetzt sind sie wieder da, nur mit Scheckbuch statt Kalaschnikow. Und wie passt Karlsbad, einstiger Jungbrunnen der Hochkultur, zu sich selbst? Immerhin die Trainingsanzugmänner mit Goldkettchen, oder auch, um die mittelöstliche Luxusvariante zu bemühen, die neureichen Araber mit Burka-Gattinnen im k.u.k.-Fiaker, an die sich Besucher aus jüngerer Vergangenheit mit einigem Unwohlsein erinnern, fehlen in diesem Sommer. Oder ist es nur, weil Karlsbad vibriert vor Jugend während des Festivals? 600 Journalisten, 700 Filmwirtschaftler, 400 Filmkünstler, das krempelt diese Oldie-Vedute mit ihren 50000 Einwohnern nicht um. Aber 10 000 tschechische Studenten, allesamt versorgt mit erschwinglichem Festivalpässen: Die rocken die Stadt.
An einer Brücke über die Eger, Herzensader der Gemeinde, prangt das Schwarzweißplakat einer jungen Frau: Marta Kubisova. Marta - wer? In Tschechien ist die Sängerin ein Mythos, eine Freiheitsikone, ein Popstar: Erst 26 Jahre alt, bekam sie 1968 Berufsverbot, weil ihr nach der Zerschlagung des Prager Frühlings heimlich aufgenommenes Chanson „Gebet für Marta“ zur Widerstandshymne geworden war: „Möge Frieden bleiben über diesem Land, mögen Wut, Neid, Bitterkeit und Streit vergehen, möge die verlorene Unabhängigkeit zu dir zurückkehren, Volk ...“ Nach der samtenen Revolution 1989 erlebte Marta Kubisova ein glorioses Konzert-Comeback auf dem überfüllten Prager Wenzelsplatz, und zuletzt, zu ihrem 70. Geburtstag vor zwei Jahren, tingelte sie mit alten Liedern durch kleine Clubs. Von all dem erzählt persönlich, anrührend privat und zugleich unerhört politisch der Dokumentarfilm „The Magic Voice of a Rebel“ von Olga Sommerova. Dieses filmische Zeugnis gehört auch in unsere Kinos, unser Fernsehen. Es erzählt von unserer eigenen mitgelebten, mitgelittenen Geschichte.
Ungarn kaputt? Na und, wir leben!
Und dann ist da das Jetzt, das auf seine Weise ins Schlimme zu schlingern droht, zum Beispiel den parteipolitisch propagierten oder gar, wie in Viktor-Orbán-Land, staatsauktorial sanktionierten Fremdenhass. Wie wunderbar wenig passen dazu die starken Filme von jungen Ungarn, die dem Schlimmen auf dem Scheitel herumtanzen und stattdessen die Fantasie und die Freiheit feiern. Nicht nur in „Afterlife“ löst sich der junge Mann vom Vaterschatten; „For Some Inexplicable Reason“, der Abschlussfilm des 34-jährigen Gábor Reisz, bringt einen Spätstudenten gegenüber seinen Buddies und den Noch-immer-Helikopter-Eltern klug und witzig in die eigene Spur. Und György Palfi erfindet in „Free Fall“ einen köstlich schrillen Alltag hinter Budapester Vorstadt-Wohnungstüren. Ungarn kaputt, na und? Wir leben!
Wo ist die geografische, die politische Mitte Europas? Sie wird immer wieder neu vermessen, je nach dem, welche Länder, welche Regionen man politisch und kulturell hinzuzählt. Vielleicht auch ist sie immer dort, wo der Schmerz jener, die sich in diesem Kontinent heimisch fühlen, am heftigsten pocht. An einem dieser heißen Nachmittage liegt sie für einen Wimpernschlag exakt in dem Hügelwäldchen zwischen dem Stadtzentrum Karlsbad und der südlichen Bädervorstadt Lazne, dessen Pomphotel Pupp den Bildertüftler Wes Anderson zu seinem Film „Grand Budapest Hotel“ inspirierte. Hier oben ist es schattig, die Wege sind steil, und abseits der Massenwanderpfade an der Eger begegnet man kaum jemandem. Auf eine verwitterte Bank hat jemand mit dickem Filzstift „Slawa Ukraine“ geschrieben, „Ruhm der Ukraine“. Es ist der Kampfruf des Maidan.
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