Deutschland drumherum (11): „Wir wollten vertrieben werden“
Die deutsch-tschechische Geschichte ist vom Zweiten Weltkrieg und der Vertreibung der Deutschen danach überschattet. Unser Kolumnist Helmut Schümann, der gerade Tschechien bereist, trifft Berta Ruzickova, die gerne vertrieben worden wäre. Denn sie wollte nichts wie weg.
Die Geschichte von Berta Ruzickova ist vielleicht untypisch. Den Hinweis, sie in Nejdek zu besuchen, bekam ich aus Deutschland. Um das noch mal klar zu sagen: Ich weiß, dass Nejdek auch einen deutschen Namen hat, auch eine deutsche Geschichte, von der erzähle ich auch gleich, ich habe aber weder Zeit noch Lust, mir die alten Entsprechungen raus zu suchen. Ich bin zur Zeit in Tschechien, hier wird weitgehend tschechisch gesprochen, und wenn nicht, wie in Marianske Lazne, auch mal Marienbad geheißen, dann ist Russisch die zweite Gebrauchssprache und Deutsch kommt, etwa auf den Speisekarten, allenfalls als dritte Sprache vor, wenn nicht erst noch Englisch vorgeschaltet ist. Traurig? Berta Ruzickova ist nicht traurig. „Ich bin Deutsche“, sagt sie, „immer noch.“ Eigentlich war ich an Nejdek längst vorbei, war auf dem Weg von Cheb nach Marianske Lazne, auch mal Marienbad geheißen. Aber dann bin ich doch wieder zurückgelaufen, von Karlovy Vary hoch ist das eine landschaftlich sehr schöne Strecke, wenn es nur nicht immer bergauf gehen würde hier im Erzgebirge.
Als ich Berta Ruzickova anrief und meine Ankunft mitteilen wollte, sagte ihr Enkel am Telefon etwas in der Landessprache, aus dem herauszufiltern war, dass sie nicht zu Hause sei. Anschließend wurde ich in meiner Pension ausgerufen: „Sie haben Besuch, Frau Ruzickova ist hier“, der Pensionswirt sprach den Namen der alten Dame sehr ehrfürchtig aus, da wusste ich noch nicht, dass sie hier im Erzgebirge weltberühmt ist.
Frau Ruzickova ist Jahrgang 31, war also 14 Jahre alt, als die Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg begann. „Wir wollten vertrieben werden“, erzählt sie, „oh, wie gerne wäre meine Familie vertrieben worden, aber man wollte uns nicht los werden. Mein Vater war Steiger, den brauchten sie hier.“ Doch sie wollte weg. Nichts wie weg. Sie habe wenig Zeit, sagt sie, es war der Geburtstag ihres verstorbenen Mannes, und deswegen hat sie eine Messe bestellt in der katholischen Kirche am Ortsrand.
„Wir mussten also hier bleiben, und als ich dann später meinen Mann kennen lernte, musste ich erst einmal tschechisch lernen. Und wissen Sie wie? Ich habe Zeitungen gelesen, mir die Fotos angeschaut und dann die Bildunterschriften gelesen. Was auf den Bildern war, sah ich, und so habe ich nach und nach die Sprache gelernt. Aber Tschechin bin ich nie geworden, bis heute nicht.“
Drei Kinder hat sie zur Welt gebracht, Regina, die Älteste ist 62 Jahre alt, „den Namen habe ich ausgesucht, es sollte ein deutscher Name sein, der auch in der Tschechien anerkannt ist“, das zweite Kind ist der Jaroslav, nach seinem Vater benannt, „und dann Josef“, jetzt auch schon 58, „der Beppi“, sagt Frau Ruzickova.
Ein Auto fährt in den Hof, Kölner Kennzeichen, ein Paar steigt aus, auch schon lange im Rentenalter, sofort springt die Frau auf Frau Ruzickova zu, spricht aufgeregt und lachend und tschechisch mit ihr. „Ich kenne die Frau nicht“, sagt Frau Ruzickova, „die ist gebürtig von hier, ausgewandert, aber die kennt mich.“ Dann kommt Blanka Horakova dazu, Lehrerin für Deutsch und Tschechisch am Gymnasium in Karlovy Vary, „doch, doch, Frau Ruzickova, Sie sind halt sehr bekannt.“
Ab 1957 trat Frau Ruzickova, „mich nennen sie hier auch Bertl“, öffentlich auf, auf der Bühne, im Radio, mit Zitter, Gitarre und Gesang, eine Volksmusikerin, sie hatte Erfolg. Noch heute spielt sie an Weihnachtsfeiern, „mit dem Gesang geht es halt nicht mehr so gut.“
Und heute? Immer noch Deutsche? „Ich bin Deutsche, aber ich möchte nichts in meinem Leben geändert haben. Natürlich schaue ich manchmal deutsches Fernsehen, Musikantenstadl zum Beispiel, aber so wirklich bringt mir das nichts, Smetana, das ist meine Musik.“ Sie muss jetzt los, zur Kirche, Blanka Horakova, die sichtlich stolz ist an der Seite von Bertl und ich begleiten sie. Auf der Straße wird Bertl von jedem gegrüßt, von Kindern, von Alten, sie lacht, sie plauscht, „ich werde noch die Messe verpassen“, sagt sie, „das wird er mir nicht verzeihen, nicht an seinem Geburtstag.“ Noch eine Frage, Frau Ruzickova, vor dem Kirchenportal. „Bertl, irgendwann wird es so weit sein, hoffentlich dauert es noch lange, aber wo...“. Bertl fällt mir ins Wort, „...wo ich begraben sein möchte“, und schon wieder lacht sie, „das ist doch gar keine Frage, na hier, hier ist meine Heimat, hier bin ich zu Hause, hier habe ich gelebt, sehr schön gelebt, hier bin ich glücklich, hier will ich auch tot sein.“
Die Geschichte von Blanka Horakova wäre noch zu erzählen, der Lehrerin aus Karlovy Vary. Das ist auch keine traurige Geschichte. Aber die wird jetzt nicht erzählt, nicht in dieser Folge. Diese Folge gehört Bertl Ruzickova, die so gerne vertrieben worden wäre, nicht durfte, ihr Glück fand und das Wort Verbitterung nicht kennt, diese Folge gehört ihr ganz alleine.
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