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Die Werke des chinesischen Künstler Xiao Yu sorgen immer wieder für Diskussion. Seine Arbeit "Ruan" wurde 2005 nachträglich aus der Ausstellung im Kunstmuseum Bern entfernt.
© Jürg Müller/dpa

Buch über Tabubrüche: Das geht gar nicht! Oder doch?

Von Adam und Eva bis Ingmar Bergmann: Der Psychoanalytiker Hartmut Kraft analysiert in seinem neuen Buch die Macht des Tabus - und die Lust an seinem Bruch.

Alle kennen sie, die Tabus. Jede Zeit und jede Gruppe hat sie entwickelt und erklärt ihren Mitgliedern ausdrücklich oder unausdrücklich: Darüber spricht man nicht. Das tut man nicht. Das sagt man nicht. Diese Kleidung trägt man nicht. Jene Speise isst man nicht. Dieses Getränk trinkt man nicht. „Das geht gar nicht!“ ist die Wendung, mit der im aktuellen Alltagsdeutsch „falsche“ ästhetische oder soziale Phänomene abqualifiziert werden.

In diesen Tagen werden die aufeinanderprallenden Tabus von Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten, meist im Kontext mit Genderthematiken, viel diskutiert. Sollen Männer Frauen generell die Hand zur Begrüßung geben müssen, oder sollte das Tabu, die „unreine“ Frau zu berühren, respektiert werden? Dürfen Mädchen und Frauen sich am ganzen Körper verhüllen, oder sollte die Mehrheit Rücksicht nehmen auf die Tabuisierung der Sichtbarkeit weiblicher Haut?

Tabus stecken tief in uns

Hartmut Kraft, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychoanalytiker in Köln, hat viele Jahre Seminare zum Thema Tabu geleitet. Die Früchte dieser Arbeit kann man in seinem Buch „Die Lust am Tabubruch“ nachlesen. Am Anfang stand eine Erfahrung, die Kraft selber verblüffte. Sollte er Beispiele für Tabus geben, hatte er häufig kein konkretes Beispiel: „So merkte ich am eigenen Leibe die Wirksamkeit der Tabus.“ Kraft ärgerte sich und beschloss, das Buch „als Gegenwehr gegen das Vergessen und Verdrängen zu schreiben.“

Die Gedanken sind frei, konstatiert Kraft, „aber bei Weitem nicht so frei, wie wir es uns oft wünschen mögen.“ Tabus stecken tief in Individuen wie Gruppen, und sie haben, „ein Spektrum von Erscheinungsformen, das von bewusst und öffentlich diskutierten Tabus über nonverbal vermittelte bis hin zu unbewussten Tabus reicht.“

Mithin lohnt es sich, sich mit Definitionen, Erscheinungsformen und Funktionen der Tabus und deren Brüchen zu befassen, mit den Metamorphosen ihrer Formen und Inhalte. Denn Tabus sind kontextabhängig. Jede Gruppe, jeder Ort und jede Zeit haben ihre eigenen. In totalitären Systemen kann sogar der Witz als derart tabuverletzend betrachtet werden, dass sein Erzählen lebensgefährlich wird, etwa die vielschichtige Scherzreplik auf „Heil Hitler!“, die „Heil ihn doch selber!“ lautete.

Von Adam und Eva bis Ingmar Bergmann

Während Sigmund Freud Tabus am ehesten mit „heiliger Scheu“ gleichsetzte, bevorzugt Kraft den Begriff der „Meidungsgebote“, die ängstigen: Wer gegen sie verstößt, riskiert Isolation und Ausschluss. Beherzt durchpflügt Kraft ein weites Feld von Tabus und Tabubrüchen, von Adam und Eva, die beweisen, wie der Verstoß gegen Meidungsverbote erst Erkenntnis und Entwicklung machen, bis hin zum heute fast vergessenen „lustvollen Sturmlauf gegen die Sexualtabus der Nachkriegsära“. Wer, fragt Kraft, „erinnert sich heute noch an die Entrüstung und die Boykottaufrufe der Kirchen, als es um den Film ,Das Schweigen’ (1962) von Ingmar Bergman ging? Und wer wüsste noch zu sagen, woran sich die Aufregung seinerzeit entzündete?“

Eigene Kapitel widmet er der Political Correctness, der Kulturgeschichte der Tabus vom Inzest- bis zum Speisetabu, und schließlich der Frage, warum auch heutige Gesellschaften sich noch Tabus unterwerfen, sie brechen oder neue errichten. „Das jeweils Umkämpfte, Tabuisierte oder soeben Enttabuisierte“, legt Kraft dar, „gibt uns Einblick in aktuelle psychosoziale Problemzonen.“

Inzest und Missbrauch

Gleich taucht die Assoziation mit dem Burkini-Streit dieser Wochen auf, mit der Frage, um welche psychosoziale Problemzone es dabei geht. Vermutlich wird versucht, das umstrittene Bekleidungsstück zum Teil zu machen, der das Ganze repräsentiert, um das es in Wahrheit geht, und das hier unter anderem „Überfremdungsangst“ heißen dürfte.

Klar bezieht Kraft Position zum doppelten Tabu um Inzest und Missbrauch. Inzest ist ein globales, transhistorisches Tabu. Doch auch der Bruch geschieht so häufig, wie er als gut gehütetes Familiengeheimnis selber Tabu ist. Generationen von Psychoanalytikern aber, unter ihnen auch Freud, waren „blind für die Häufigkeit realen sexuellen Missbrauchs und für die Unterschiede, die zwischen erlittener Realität und intrapsychischen Konflikten, Wünschen und Ängsten bestehen.“ An der Anerkennung dieses Faktums laboriert die aufgeklärte Gesellschaft der Gegenwart noch immer.

Hartmut Kraft: Die Lust am Tabubruch. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015, 244 Seiten, 19,99 €.

Caroline Fetscher

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