zum Hauptinhalt
Biblischer Beischlaf. Nach alttestamentarischer Überlieferung wurde Lot von seinen Töchtern betrunken gemacht und verführt, um das Überleben der Sippe zu gewährleisten. Gemälde von Lucas Cranach dem Älteren, um 1550. Foto: picture-alliance/akg
© picture-alliance / akg-images /

Tabu Inzest: Es bleibt in der Familie

Die Abscheu vor Inzucht ist tief in uns verwurzelt. Zugleich wird weltweit jede zehnte Ehe unter Cousins und Cousinen geschlossen. Wissenschaft eines Widerspruchs.

Mark und Julie sind Geschwister. Sie reisen in den Sommerferien gemeinsam durch Frankreich und verbringen einen Abend allein in einer Hütte am Strand. Dabei kommen sie auf die Idee, dass es interessant und lustvoll sein könnte, miteinander zu schlafen. Julie verhütet bereits mit der Pille, aber zur Sicherheit benutzt Mark zusätzlich ein Kondom. Sie genießen die Erfahrung, aber entscheiden sich, es nie wieder zu tun und niemandem mitzuteilen. Die Nacht bleibt ihr spezielles Geheimnis, das sie einander noch näher bringt. Was meinen Sie: War es in Ordnung, dass die beiden Sex hatten?“

Diese Frage stellte der Psychologe Jonathan Haidt von der New York University vor einigen Jahren Interviewpartnern, und die meisten verneinten spontan. Sex zwischen Geschwistern war selbstverständlich nicht in Ordnung. Aber warum?, fragte Haidt weiter. Wegen der Inzuchtgefahren, argumentierten einige, nur um daran erinnert zu werden, dass das Paar ja verhütete, doppelt sogar. Wegen seelischer Folgeschäden? Auch die waren nicht gegeben, ganz im Gegenteil. Wegen des gesetzlichen Verbots? In Frankreich ist Inzest nicht verboten. Außerdem hatte das Paar alles für sich behalten.

Einen rationalen Grund für die Ablehnung des geschwisterlichen Beischlafs gab es also nicht. Die Befragten hatten aus dem Bauch heraus entschieden und im Nachhinein Argumente für ihre instinktive Abneigung zusammengesucht. Für den Psychologen Haidt ein typisches Beispiel dafür, wie sehr der Mensch in Angelegenheiten der Moral seiner Intuition folgt, auch wenn er ihr gern das Mäntelchen der Vernunft umhängt.

Vier Kinder mit der Schwester

Bis heute ist das Verbot des Geschlechtsverkehrs unter nahen Familienangehörigen in Deutschland im Strafrecht verankert. Immer wieder fordern Politiker, das Inzesttabu zu überdenken. So machte sich der Grünen-Politiker Christian Ströbele 2012 für eine Legalisierung der „Geschwisterliebe“ stark, die Piratenpartei forderte eine Abschaffung des Strafgesetzes. Doch der Paragraf 173 wird bis heute umgesetzt: So wurde der 1976 geborene Patrick S. wegen Geschlechtsverkehrs mit seiner Schwester zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Patrick S. war früh von einer Pflegefamilie adoptiert worden und hatte seine Schwester erst als Erwachsener kennen gelernt. Die beiden haben vier Kinder.

Wo rührt der tief sitzende und kulturübergreifende Abscheu vor Inzest her? An Erklärungsversuchen fehlt es nicht. Besonders bekannt ist der Ödipus-Komplex. Erdacht wurde er von Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse. Laut Freud begehren Kinder ihre Eltern, der Sohn die Mutter (wie in der griechischen Sage Ödipus seine Mutter Iokaste), die Tochter den Vater. Bedroht von der väterlichen Macht möchte der Sohn seinen Erzeuger töten, doch das gesellschaftliche Inzesttabu bändigt sein Begehren.

Unterdrücktes Begehren

Freuds Erklärungsversuch krankt daran, dass er die instinktive Ablehnung von Sex mit nahen Angehörigen in ihr Gegenteil verkehrt. Diese sei in Wahrheit ein unterdrücktes Begehren. Das ist um die Ecke gedacht, wenig belegt und will angesichts der universalen Verbreitung des Inzestverbots als Erklärung nicht so recht einleuchten. „Die Idee, dass Jungs mit ihren Müttern schlafen möchten, erscheint den meisten Männern als die albernste Sache, die sie jemals gehört haben“, brachte der Harvard-Psychologe Steven Pinker das Unbehagen an Freud auf den Punkt.

Eine andere Theorie besagt, dass das Inzesttabu Kinder dazu ermuntert, Partner außerhalb ihrer Gruppe zu suchen und dadurch den Einfluss dieser Gruppe zu stärken. Wenn zum Beispiel eine junge Frau in eine andere Sippe einheiratet, verbindet sie beide Familien und schafft eine für beide Seiten vorteilhafte Allianz. Die Überlegung stammt von dem französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss, der sich auf Feldstudien in unterschiedlichen Kulturen berief.

Anders als Freuds Ödipus-Komplex steht Levi-Strauss’ Allianz-Annahme nicht im direkten Widerspruch zu einer biologischen Erklärung des Inzesttabus. Nach dieser sind es schwerwiegende medizinische Risiken für den Nachwuchs, die eng Verwandte davon abhalten, Sex zu haben. Vereinfacht gesagt sind sie evolutionär programmiert, ihn abzulehnen. Die Gesundheitsgefahr ist traditionell auch eine der Grundlagen eines juristischen Verbots der „Blutschande“.

Viele Menschen haben ein oder zwei krankheitserzeugende Gene, ohne es zu wissen. Jeder Mensch besitzt einen doppelten Satz an Genen in seinen Körperzellen, und häufig kann ein defektes Gen durch seine intakte Kopie ausgeglichen werden. Solche „rezessiven“ Krankheiten machen sich nur bemerkbar, wenn bei einem Menschen zwei Kopien des fehlerhaften Gens aufeinandertreffen.

Gibt es einen Anti-Inzest-Instinkt?

Bei Verwandten ist diese Gefahr größer, weil sie einen Großteil ihrer Gene teilen und somit beide das gleiche defekte Gen an ein gemeinsames Kind weitergeben könnten. Bruder und Schwester etwa teilen 50 Prozent ihrer Gene, das Risiko genetisch bedingter Krankheiten bei ihren Nachkommen ist damit drastisch erhöht. Bei Cousin und Cousine sind es durchschnittlich 12,5 Prozent gemeinsamen genetischen Erbes. Auch bei ihnen kommt es damit deutlich häufiger zu Gesundheitsproblemen beim Nachwuchs als bei Ehen zwischen Nichtverwandten.

Biologen gehen davon aus, dass der Anti-Inzest-Instinkt entstand, um diese Gefahr zu verringern. Doch wie wird er von der Natur ins Werk gesetzt? Eine Hypothese dazu stammt von dem finnischen Ethnologen Edvard Westermarck. Er stellte 1891 die Theorie auf, dass Kinder, die zusammen aufgezogen werden, in der Regel keine erotische Beziehung zueinander aufnehmen werden, und zwar unabhängig von ihrem Verwandtschaftsgrad.

Für den Gießener Evolutionsforscher Eckart Voland ist das eine Art „psychischer Algorithmus“, um Verwandte zu erkennen. „Als verwandt wird derjenige eingestuft, mit dem man in Kindheit und Jugend aufgewachsen ist“, sagt Voland. „Das gilt auch für Familien mit adoptierten Kindern.“

Gene machen Menschen nicht zu Automaten

Studien bestätigten Westermarcks Inzest-Bremse, wenn auch nicht zu 100 Prozent. Das spricht nicht dagegen, dass Verhalten genetisch gebahnt ist. Gene machen den Menschen nicht zu Automaten, sondern erhöhen die Wahrscheinlichkeit für bestimmtes Verhalten. Doch in die Kalkulation gehen Umwelt und Kultur selbstverständlich ein.

Die Erfahrung, mit einem Kind anderen Geschlechts aufzuwachsen, wirkt sich sogar auf das moralische Urteil über Inzest aus. Das ergab eine Untersuchung von Debra Lieberman von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara. Werden Jungen und Mädchen miteinander groß, fällt ihr Verdikt über Inzest schärfer aus – und das umso mehr, je länger sie zusammengelebt haben.

"Inzest light"

Bei den Beziehungen in der Familie sieht Voland gegenläufige Tendenzen. Das Inzestverbot treibe die Angehörigen auseinander. Auf der anderen Seite zeichneten Familien sich durch Zusammenarbeit und Zusammenhalt aus, sagt er. Das führe häufig zur Verwandtenehe, eine Art „Inzest light“.

Tatsächlich sind Ehen unter Verwandten bei etwa 20 Prozent der Weltbevölkerung die bevorzugte Form der Heirat. Typisch für sie sind Verbindungen zwischen Cousin und Cousine, also zwischen Menschen, die mindestens einen Großvater oder eine Großmutter gemeinsam haben. Etwa jede zehnte Ehe weltweit wird schätzungsweise zwischen Cousin und Cousine ersten oder zweiten Grades geschlossen. Besonders verbreitet sind diese Ehen in Afrika, dem Mittleren Osten und in Südasien. Der Grund für diese Verbindungen: Es bleibt in der Familie. Seien es Land, Geld oder eine andere Form von Wohlstand und Einfluss. Es gibt sogar Hinweise, nach denen eine gewisse biologische Nähe zwischen den Partnern sich günstig auf Zahl und Gesundheit der Nachkommen auswirken kann. Das fanden isländische Forscher bei Heiraten zwischen Cousin und Cousine dritten oder vierten Grades.

Im Allgemeinen jedoch hat die Verwandtenehe ihren Preis. Man schätzt, dass die Wahrscheinlichkeit genetisch bedingter Störungen und Fehlbildungen bei einer Heirat zwischen Cousin und Cousine ersten Grades verdoppelt ist und von zwei bis zweieinhalb auf etwa vier bis fünf Prozent steigt. Allerdings gibt es auch Studien, nach denen das Risiko in Bevölkerungsgruppen mit häufigen Verwandtenehen mit acht bis zehn Prozent wesentlich höher ausfällt.

Aufklärung und Beratung über genetische Risiken können ein Weg sein, um das Problembewusstsein zu schärfen. Inzwischen gibt es auch Testverfahren, mit denen das Erbgut nach genetischen Defekten abgesucht werden kann, sagt der Humangenetiker Hans-Hilger Ropers vom Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin.

All das sind Methoden, die den alten Ägyptern nicht zur Verfügung standen. Im Pharaonenreich war die Heirat zwischen Geschwistern keine Seltenheit. Auch die Eltern Tutanchamuns waren Geschwister. Der Herrscher, dessen goldene Gesichtsmaske zum Inbild von Glanz und Herrlichkeit des alten Ägypten wurde, starb mit 19 Jahren.

Hartmut Wewetzer

Zur Startseite